Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Lavater suchte bei Goethe nicht die herkömmliche Frömmigkeit, er wollte ihn auch nicht bekehren, nicht »schikanieren« und nicht »Parteisache machen«. Er wollte es auf einen edlen Geisteskampf ankommen lassen: »du sollst Einer 〈ein Christ〉 werden – oder ich werde was du bist.« Der Geist weht, wo er will.
Lavater wollte Goethe auch für die Mitarbeit an seinem neuen Projekt gewinnen, dem großen Werk über die Physiognomie. Dafür sammelte er Stiche, Scherenschnitte, Porträtzeichnungen bekannter und unbekannter Personen, die physiognomisch gedeutet werden sollten, teils von ihm selbst, teils von Freunden und Bekannten, die er darum bat. Die »Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe«, wie das im Entstehen begriffene Werk hieß, sollte wirklich eine Gemeinschaftsarbeit werden. Lavater beanspruchte keine besondere Deutungskompetenz, er hielt sich nur zugute, die allgemeine Aufmerksamkeit auf den physiognomischen Aspekt der Menschenkunde gelenkt zu haben.
Der Grundgedanke dabei war einfach genug. Es ging um den vermuteten Zusammenhang von äußerer Gestalt und Charakterbildung. Wie später bei der Psychoanalyse, vermischten sich auch bei der Physiognomik wissenschaftlicher Ernst und Gesellschaftsspiel. Das ›Physiognomisieren‹ wurde sehr bald zur Mode, was Lavater einerseits schmeichelte, andererseits verdroß, da es die Reputation des ganzen Unternehmens gefährdete. Deshalb schrieb er an Goethe im November 1773: »Wollen Sie mir helfen, eine aus halben, Viertels- und Achtels-Beobachtungen geschöpfte große, unendlich wichtige Vermutung durch viele ganze, feste Beobachtungen bestätigen oder verwerfen?« Goethe war bereit zu helfen, vor allem weil ihm der Grundansatz einleuchtete, wonach man vom Äußeren aufs Innere schließen kann und nicht nur umgekehrt. Der Weg vom sinnlich Wahrnehmbaren zum innerlich Geistigen war für ihn auch sonst ein gangbarer.
Goethe lieferte in den ersten Jahren fleißig Porträts und Beschreibungen für Lavaters entstehendes Werk, über Klopstock etwa:
Diese sanftabgehende Stirne bezeichnet reinen Menschenverstand; ihre Höhe über dem Auge Eigenheit und Feinheit; es ist die Nase eines Bemerkers
. Unter die Silhouette der ihm damals noch unbekannten Charlotte von Stein notierte er im Sommer 1775, also noch vor der Übersiedlung nach Weimar, die Sätze:
Es wäre ein herrliches Schauspiel zu sehen, wie die Welt sich in dieser Seele spiegelt. Sie sieht die Welt wie sie ist, und doch durchs Medium der Liebe. So ist auch Sanftheit der allgemeinere Eindruck.
Lavaters Denkweise war zu rhapsodisch und enthusiastisch, um sich der Kritiker und Skeptiker wirkungsvoll, das heißt mit nüchternen Argumenten erwehren zu können. Deshalb bat er den neugewonnenen Physiognomik-Adepten Goethe um einige grundsätzliche Bemerkungen, die dieser bereitwillig lieferte, gaben sie ihm doch Gelegenheit zur Selbstklärung. In den zwischenmenschlichen Beziehungen, so Goethe, bleibt das Geflecht von Wirkungen und Gegenwirkungen zumeist unbewußt. Ständig liest man im Gesicht des anderen und stellt sich darauf ein, ohne sich genaue Rechenschaft davon zu geben. Jeder
fühlt, wo er sich nähern oder entfernen soll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder stößt ihn weg, und so bedarf er keiner Untersuchung, keiner Erklärung.
Dieses unbewußte oder halbbewußte Geschehen sollte man nicht stören. Es erleichtert in der Regel den Umgang. Doch in besonderen Situationen, wenn man wissen will, was genau einen anzieht oder abstößt, was man sich von einem anderen verspricht oder wessen man sich von ihm zu gewärtigen hat, wenn man also Anlaß hat, das Beziehungsgeflecht, in das man verstrickt ist, genau zu verstehen, dann kann die physiognomische Achtsamkeit helfen. Sie ist eine Kunst, die sich lehren und lernen läßt.
Goethe nahm Lavater als Meister an, in diesem Metier wenigstens. Er trat ihm mit Respekt entgegen, als dieser am 23. Juni 1774 in Frankfurt eintraf. Man redete sich mit »Bruder« an und Goethes Mutter nannte den Gast einen »lieben Sohn«. Lavater wandte seine physiognomische Aufmerksamkeit sogleich an. Goethe sage überraschende und wunderbare Sachen »mit der Miene des sich fühlenden Genius«, notiert Lavater in seinem Tagebuch. Er besuchte die Klettenberg, mit der er abwechselnd über den Herrn Jesus und Goethe sprach. Lavater erging sich schwärmerisch über den Freund: »einen so harmonischen Mitempfinder der Natur hab’ ich doch noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher