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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Belastung zu werden, zumal Goethes Tätigkeit als Rechtsanwalt wie auch seine literarischen Veröffentlichungen kaum etwas einbrachten.
    Doch die Eltern mußten sich gedulden. Das Verhältnis zu Anna Sibylla Münch wurde nicht ernsthaft, und das sogenannte Genietreiben dauerte noch einige Zeit fort, steigerte sich sogar, da Ruhm und Ansehen des jungen Autors wuchsen. Auch der Besucherstrom riß nicht ab. Unter den Besuchern war auch ein Gast, der im Leben Goethes noch eine bedeutende Rolle spielen wird.
    Am 23. Juni 1774 machte Johann Kaspar Lavater, von Zürich her unterwegs zum Kurort Ems, in Frankfurt Station und kehrte bei Goethe ein, wo er eine Woche blieb. Der um acht Jahre ältere Lavater, Pfarrer in Zürich, war zu diesem Zeitpunkt bereits ein berühmter Mann. Man kannte ihn nicht nur in den religiösen Kreisen, überall erregte er öffentliches Aufsehen. Er war ein begnadeter Prediger mit geselligem Talent, einen »Menschenfischer« nannte er sich. Ständig auf Reisen, knüpfte er überall Verbindungen an. Er verstand es, Leute für die Mitarbeit an seinen Projekten – Sammelbände, Schriftenreihen, Erbauungsbüchlein – zu gewinnen. Er war, was man heute einen ›Netzwerker‹ nennt. Man versammelte sich um ihn, und es gab sogar das Gerücht, er besitze heilende Kräfte. Er sprach sanft und eindringlich, eine große Freundlichkeit ging von ihm aus. Gerne begleitete man ihn eine Strecke weit auf seinen Wegen, und empfing ihn, wenn er ankam. Die Zeitungen berichteten davon. Sie berichteten auch, als er seinen Antrittsbesuch bei Goethe machte. »Bischt’s?« soll sein erstes im breiten Schweizerisch geäußertes Wort gewesen sein, und schon lag man sich in den Armen.
    Lavater hatte zuerst politisches Aufsehen erregt, als er 1762 zusammen mit dem Maler Johann Heinrich Füßli gegen einen ungerechten Zürcher Landvogt publizistisch zu Felde zog und dessen Absetzung bewirkte. Das begründete seinen Ruhm und sein Ansehen als frommer doch nicht duckmäuserischer Mann. Wichtiger waren ihm die besinnlichen und seelenvollen Töne. 1768 veröffentlichte er die »Aussichten in die Ewigkeit«, Phantasien im Geiste der Empfindsamkeit über ein Leben nach dem Tod; ein Werk, das ihn in Deutschland populär machte. Goethe hatte das Buch 1772 in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« gelobt und war zugleich auf Abstand gegangen. Die Erörterungen über die
Vergebung der Sünden
, schreibt er, mögen
gewisse Menschen über diese Materien beruhigen
, doch der Rezensent gehöre nicht dazu, denn wer nicht beunruhigt ist, bedarf auch keiner Beruhigung. Mit solchen Bemerkungen hatte Goethe schon zuvor manche seiner Bekannten bei den Herrnhutern geärgert, und eben das brachte er nun auch gegen Lavater vor, nämlich, daß ihm das Gefühl von Sünde fremd sei. Lobend hatte er den ansprechenden Stil des Buches erwähnt. Es sei offenbar nicht für den
grübelnden
Teil der Christenheit geschrieben, sondern für den sinnenfrohen, denn Lavater
zaubert

...

eine herrliche Welt vor die Augen
, wo man sonst nur
in Düsterheit und Verwirrung
verstrickt werde. Abschließend hatte der Rezensent dem Autor den Rat gegeben, auf die theologischen Spekulationen ganz zu verzichten und sich aufs Schauen zu verlegen. Ein etwas ratloser Rat. Denn was soll es schon zu schauen geben – bei den »Aussichten in die Ewigkeit«?
    Lavater seinerseits war auf Goethe durch dessen Schrift »Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***« Anfang 1773 zum ersten Mal aufmerksam geworden und war von dem dort formulierten Plädoyer zugunsten der schlichten Herzensfrömmigkeit und gegen dogmatische Spitzfindigkeit sehr angetan. Nach der Lektüre des »Götz« schrieb er an Herder: »Unter allen Schriftstellern kenn ich kein größeres Genie«. Im August 1773 begann der Briefwechsel mit Goethe, der von Seiten Lavaters von Anfang an in enthusiastischem Ton geführt wird. Die ersten Briefe Goethes an Lavater sind nicht erhalten, doch scheint Goethe bei allem Überschwang auch das Trennende zur Sprache gebracht zu haben.
Ich bin kein Christ
, zitiert Lavater aus einem nicht erhaltenen Brief Goethes, ein schroffes Eingeständnis, das Lavater zu schaffen machte. Doch aus Liebe und Bewunderung sah er darüber hinweg. Er konnte es auch deshalb, weil er glaubte, Goethe besser zu verstehen als der sich selbst verstand. Wenn Lavater – wie viele andere – in Goethe das Genie sah, so war für ihn das Genie nichts anderes als der unbewußt in uns wirkende Gott.

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