Goethe war’s nicht
Angelegenheit der falsche Mann war, und jede konträre Ansicht sofort im Keim ersticken.
Es war Fabiana, die ihnen die Tür öffnete. Mit tränenüberströmtem Gesicht und herzergreifendem Schluchzen murmelte sie einen kaum verständlichen Willkommensgruß. Sie trat einen Schritt zurück und bedeutete den beiden hereinzukommen.
Kaum eingetreten, erschien im Halbschatten des Flurs der Herr des Hauses und legte sofort los: „Ah, Herr Schweitzer, gut, gut, gut. Schön, dass Sie da sind. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen den Brief. Und …“
„Einen Moment, bitte“, unterbrach Herr Schweitzer aus zwei Gründen. Erstens war ihm jedwede Art von Hetze schon immer höchst zuwider und zweitens galt es, gleich mal zu signalisieren, dass nur ein kühler Kopf prekäre Situationen wie diese zu meistern imstande war. Betont lässig streifte er sich seine Lederjacke ab, die er nur deswegen angezogen hatte, weil Fornet gestern sein Erscheinungsbild nicht mit dem eines Detektiven in Einklang hatte bringen können, und reichte sie Fabiana. Innerlich panzerte er sich schon mal gegen die zu erwartenden elterlichen Emotionen. „Und immer schön der Reihe nach. Gerade am Anfang werden die meisten Fehler begangen.“ Er wusste zwar nicht, ob das stimmte, aber es klang gut und professionell. Obendrein galt es, hier umgehend das Heft in die Hand zu nehmen, bevor Fornet glaubte, ihm Vorschriften machen zu können. Extrem barsch und mit alttestamentarischer Strenge fügte er deshalb hinzu: „Ich hoffe, Sie haben schon Kaffee aufgesetzt. Der Tag könnte verdammt lang werden.“ Das war natürlich alles nur Show, denn sein Plan ging Richtung Polizei einschalten.
Maria, die sich inzwischen der völlig aufgelösten Fabiana angenommen und ihr die Hand über die Schulter gelegt hatte, sah ihn irritiert an. So rigoros hatte sie ihren Liebsten selten erlebt.
Herrn Schweitzers nonverbale Kommunikation mit Maria besagte in etwa: Lass mich mal machen, Schatz, ich weiß schon, was ich tue, kümmere du dich um die Mutter.
Fornet: „Kaffee. Klar.“ Er schaute zu seiner Frau, schüttelte leicht den Kopf und ging in die Küche.
Maria: „So, Fabiana, ich darf Sie doch so nennen?“
„Ja, natürlich.“
„Dann gehen wir schon mal ins Wohnzimmer.“
Herr Schweitzer ging zu Fornet und sah, wie dieser mit zittriger Hand Kaffee in den Filter löffelte. Wenig war geblieben von seiner gestrigen Selbstsicherheit.
Nachdem die Maschine gurgelnd ihren Betrieb aufgenommen hatte, sagte der Sachsenhäuser Gelegenheitsdetektiv: „So, nun erzählen Sie mal.“
Wortlos griff Fornet in die Außentasche seiner dunkelbraunen Strickjacke und reichte ihm einen weißen Briefumschlag.
Herr Schweitzer jedoch schaute sich um und riss ein Blatt von einer Küchenrolle ab. Damit ergriff er den Umschlag. „Wegen der Fingerabdrücke. Es reicht, wenn Ihre drauf sind.“
„Oh, aber ich konnte doch nicht wissen, was drin steht.“
„Schon gut. Keine Briefmarke …“
„Nein, er lag heute Morgen unfrankiert im Briefkasten, als ich die Zeitung rausholen wollte.“
„Aha“, murmelte Herr Schweitzer, nahm das Blatt heraus und las: 450.000 Euro oder Ihr Sohn ist tot. Heute um 15 Uhr Anruf. Keine Polizei!
Die Buchstaben waren offensichtlich einzeln aus Zeitschriften ausgeschnitten und der ganze Zettel dann kopiert worden. „Wie spät ist es?“ In der morgendlichen Hektik hatte er seine Armbanduhr vergessen.
Herr Fornet deutete auf die Küchenuhr neben dem überdimensionierten silberfarbenen Kühlschrank, ein protziges amerikanisches Modell.
„Fünf nach halb zehn“, sagte Herr Schweitzer. „Genügend Zeit also, die Polizei zu verständigen.“
Wie auf Knopfdruck war Fornets Selbstsicherheit wieder hergestellt. Mit einer Stimme, die es gewohnt war, Autorität auszustrahlen, antwortete er knapp und laut: „Das geht auf keinen Fall. Steht ja wohl ausdrücklich im Brief der Kidnapper.“
Herr Schweitzer allerdings ließ sich davon wenig beeindrucken. Um ein ernstzunehmendes Gegengewicht zu Fornets Befehlsform zu installieren, schmiss Herr Schweitzer all seine in Jahren des Müßiggangs erworbene Gleichgültigkeit in die Waagschale: „Ach, das sagen die doch immer. Keine Polizei, wenn ich das schon höre. Die wollen nur die Kohle, alles andere ist Wischiwaschi.“
„Wischiwaschi? Herr Schweitzer, ich darf doch bitten. Es geht um das Leben meines Sohnes.“
„Und genau deswegen sollten Sie die Bullen rufen. Je eher, desto besser. Wir verlieren hier nur
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