Goethe
dein Spielzeug zusammen und geh in die Verzweiflung hinaus und entdecke den Rachen des Unsinns, – und lies Erbsen für deine Schweine, wie ich!«
Und stieg hinab.
Schritt, nicht mehr sich umwendend, vor seinem erloschenen Auge in die Wüste.
Trat in der Ferne, vor seinem totgepreßten Auge in die Hütte.
Und nichts mehr war rundum!
Nichts. In den Gliedern, die einem Leichnam gehörten, nichts. In der Seele, aus deren Bett gurgelnd der Fluß der Vergangenheit strömte, nichts. Im Gehirn, dem meuchlings die gemästeten Bilder des Bisher entflohen, nichts.
Überall nichts.
Die Hände zu heben, einmal, versuchte er; daß sie sich falteten, oder die Gebärde des Nichts höhlten mit ihrer gekrümmten Runde; oder frech abwehrend sich reckten gegen das Nichts.
Aber sie gehorchten nicht.
»Nichts!« stammelte er, in seinem vollen Nichts hingeboten dem fremden Auge, als eine fremde Stimme in seinem Rücken plötzlich fragte: »Schläfchen gemacht?« Aber Kniep, dieser Wecker, erriet ja nichts! Fünf Blätter hatte er zu weisen. Dampfte von Freude am Werke. »Das ist doch immer so!« strahlte er; wie vor einem Blinden tropfte dem Mann, der blind die Blätter prüfte, der Schweiß von der Stirne. »Wenn ich das grauslichste Schwein dreimal recht mit Fleiß zeichne, auf einmal wird es doch ein Porträt. Und das Schwein ein sympathisches Tier. Ich finde jetzt den Tempel viel maßvoller, schöner!«
Wie aus ziehendem Grabe stand Goethe auf. Nahm den Ahnungslosen unter dem Arm. Mühte sich Tritt für Tritt, wie ein Kranker, in die Bahn zwischen den Säulen zurück. Verwünschte zerfressen die Rede, die vom Jungen – nur weil er seine Arbeit getan – blühend niederfloß. Und griff sie trotzdem wie Strohhalm. Ihre gewöhnlichen Worte kampfloser Ruhe, nicht einmal an die Sockel der Gebirge hinan rührten sie, die vor seinem Entsetzen sich aufbauten. Keine Bewegung erfühlten sie von den zuckenden Parabeln, mit denen die Welt vor ihm rachsüchtig kreiste. Und griff sie trotzdem, lechzender nach Auferstehung von Sekunde zu Sekunde, wie das Tau der Errettung. Höre nicht auf, höre nicht auf zu reden! rang stumm, weil er nicht reden konnte, der zuckende Mund, der vom Grab kam; beschwor, weil es im Grab blieb, wenn es nicht hörte, das Ohr; bettelte die Hand, die den leitenden Arm preßte wie Kinderhand den Vaterarm preßt auf dem schwindligen Notsteg; rede nur, rede immer weiter und weiter! Schreite! Stundenlang, tagelang, ohne Unterlaß, bis du mich herausgezogen haben wirst aus dem Nichts! Durch das Dickicht der Säulen schreite! Über die Schlünde des Leeren! Aus dem Gähnen der Lücken in die Übervölle der Formen! Vom Gestade des Nichts vor der nördlichen Stufe an die – vielleicht doch einmal noch winkende Gestalt der Tat vor der südlichen! Rede nur, rede unaufhörlich, und schreite! Sekunde! Minute! Stunde! Wirkende Webe der Zeit über dem Loch der Vernichtung! Zieht schon ein Atemzug? Spannt die Säule des Rückgrats schon wieder den Rücken? Rinnt Blut in der Hand? Will mir, unter dem Auge, das die Lider aufschlägt, ein Wort wieder werden? Im Gehirn wieder Denken? Ein Gefühl in der Brust?
»Dies nämlich wollte ich sagen . . .« Aber zaudernd senkte Kniep das Auge; redete er nicht den Unsinn der Jüngsten? »Wenn man sich . . .«
»Weiter! Nur weiter!« stieß der Mann an seiner Seite bettelnd heraus; es klang wie Schuß in der Wildnis. »Nur weiter und weiter!«
»Wenn man sich mit irgendetwas nur recht unerbittlich beschäftigt, verliert auch das Fremdeste bald seine Fremdheit. Wenn etwas also, dann ist's nur die eigen zu machen. – Ich habe das allerdings erst heute eigene Tat, die einem helfen kann, die Welt sich zu erfahren.« Töricht lächelte Kniep; kindlich. »Sie dürfen nicht böse sein, daß ich so rede. Tischbein warnte mich ausdrücklich davor, Sie zu beschwätzen. Aber . . .«
»Aber?« Lauter, hochaufspringender Atem. Stehen blieb der Fuß. Hart packte die Hand den Arm, der nicht wagte. »Weiter! Nur weiter!«
»Aber ich gehe in Neapel nur mit Menschen um, die noch dümmer als ich sind. Da bleibt man denn das Nichts, das man ist! Nun, zum erstenmal, finde ich mich einem Geiste gegenüber, der auch den besten überlegen ist, – und die Schiefertafel wird beschrieben! Sie ist natürlich eine ganz unbedeutende Schiefertafel . . .«
Jetzt bin ich durch! wußte Goethe. »Es ist nichts wichtiger,« – mit keuchender Wollust stieg das Wort aus dem überwältigten Grab herauf –
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