Goethe
wenig wie jeder andere aus meiner Haut. Das ist das Ganze.«
»Streiten wir doch nicht!« Kalt drehte sie sich auf dem Absatz um. Im selben Augenblick riß ein Peitschenschlag die Luft entzwei: der Herr Postillon, ein dicker Fünfziger mit riesigem Schnurrbart im versoffenen Mondgesicht, war aus dem Haustor getreten. »Einsteigen, meine Herrschaften!« schrie er fett in den Platz hinein und peitschte, daß der Platz knallte. »Einsteigen!«
Wie ein Pfeil fuhr ein Engländer, die Pfeife zwischen den Zähnen, in den Omnibus hinein, der zum Bersten voll war.
»Lotte!« stammelte Goethe, verzweifelt an den weitfaltigen Mantel aus blauem Schnursamt gepreßt, »laß uns um Gotteswillen nicht so auseinandergehen! Fühlst ja doch, weißt ja doch, daß mir die ganze Welt nichts zu sagen hat, wenn du mich nicht lieb hast, und daß ich in einer Viertelstunde schon untröstlich, unheilbar . . . Lotte!«
»Wenn du nur bald zurückkommst!« lächelte sie wehmütig mit heroischen Lippen, die Tränen liefen ihr armselig über die Wangen herab. »Wann wird's denn sein?«
Todverachtend bestimmt, während er, von Vorwurf und Ahnung zerrissen, die gebrechliche Gestalt auf den Tritt emporhob: »Heut ist der vierzehnte. Wenn es gut geht, bin ich Ende des Monats mit den vier Bänden fertig. Dann möchte ich noch auf eine Zeitlang – – irgendwohin.«
»Wohin?«
Aus verzerrten, verzogenen Zügen, kein Wort nah am anderen: »Ich sagte doch schon: ich möchte für eine gewisse Weile in eine andere Luft – in ein neues Stück Welt.«
»Abfahrt!« schrie der Postillon wütend und sprang auf den Bock.
»Liebstes!«
»Du!« Wie im Schauer von Schmerz und von Rosen: Kuß und Umarmen.
»Schreibe!«
»Du auch!«
»Vergiß mich nicht!«
»Grüß mir die Buben!«
Jetzt winkt noch ihr Auge. Jetzt winkt ihre Hand noch. Mit dröhnendem Trab schaukelt der Wagen über die Buckel der Pflaster. O! Fing die Hegire so an? »Und ich Ausbund! Ich Scheusal!« Und in der brennenden Scham ein herzhafter Sprung, und er stand schon im Wagen; auf dem Trittbrett. »Bitte!« schmeichelte er, höflich den Hut gezogen, und sah dem Engländer unwiderstehlich ins verblüffte Gesicht. »Wollten Sie wohl die große Entsagung üben, nicht zu rauchen? Die Dame« – ein Blitz nur von Blick – »kann Tabak nicht vertragen.« Und im Nu wieder herabgesprungen, aus unheimlich weitoffenen Augen, sah er dem Wagen nun zum zweitenmal nach. Jetzt rollte er in den Engpaß der Gasse. Jetzt verschlang ihn einschärfend der Bauch, den mit eigensinnig austretender Mauer das Stadthaus in die Gasse hinein wölbte. Und jetzt . . . .
O! Dieses Augenblicks, da er, wie zwischen Gestern und Morgen, einer Welt, die versank, und einer Welt, die neu aufstand, im Schneeberger Platzpflaster gestanden hatte, zu Mittag des vierzehnten August, den Hut in der Hand, an allen Gliedern zitternd und nicht fähig, umzukehren, und nicht fähig, fortzugehen, nein! in willenlosem Warten gebannt, bis ein Mann an ihn herantrat, der fragte, was er begehre, und den er nun fragte, ob er ihm wohl die Wohnung des Bergverwalters Beer zeigen könnte, – dieses Augenblicks mußte er sich oft noch mit Grausen erinnern!
»Hast du von Lavater nichts weiter gehört?« fragte ihn, ein paar Tage nach der Rückkehr, der Herzog auf dem Morgenspaziergang hinter Karlsbad, im sanft ansteigenden Walde.
»Nichts!« erwiderte er blutrot, als wären ihm die Kleider vom Leibe gerissen worden; noch vor wenigen Wochen, in Weimar, hatte er den einst so Vergötterten wie einen räudigen Hund behandelt.
»Und von Frau von Stein?«
Und da saß schon der Stich, der erinnerte Augenblick, dolchspitzig im Herzen. Über ein Wieschen und die Tannen zur Rechten in das nackte Gestein empor, das sich in ungleichen, wagrechten Lagern unter dem makellosen Himmel talaus schob, schielte hilflos der Getroffene. »Daß sie gut ankam in Kochberg. Und Ernst große Schmerzen leidet.«
Der Herzog, barhaupt, die Sonne im Gesicht und auf dem verräterisch ausgesuchten dunkelvioletten Kleide mit Goldstickerei, lachte derb. Er hatte einen guten Tag, gute Zeit überhaupt jetzt: ferne von Weimar, dazu von Preußen herab – trotz dem Tode des Königs – die angelegentlichste Werbung. »Wenn ich nicht irre«, schmunzelte er teuflisch und blickte herüber zu Goethe, »hast du, vor Jahren, meine Bekanntschaft mit Lavater ›Siegel und oberste Spitze‹ unserer damaligen Schweizerreise genannt und eine ›Weide am Himmelsbrot.‹ Nicht? Und
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