Goethe
magisch? Wo komm ich zuletzt an? Wo endlich? »Glaubst du,« fragte er heiser im teuflischen Durcheinander, das den gepreßten Geist wie ein Kosmos noch zu überwindender Elemente zur überirdischesten Geduld verdammte, »glaubst du, es ist erlaubt, jenes Bild von vorhin – die Kuppel von Sankt Peter – aus der Erinnerung nachzuzeichnen?«
»Warum nicht?« Aber in der empört prasselnden Antwort kochte kein milderer Drang, als im Busen des Fragers. »Aber warum nachzeichnen? Überhaupt noch lang zeichnen? Sehen Sie denn noch immer nicht ein, daß die Plage umsonst ist?«
»Ich hätt's nicht sagen sollen! Wie?« In brennroter Reue, zerknirscht, stammelte es der Jüngling. »So seien Sie mir doch, um Gottes willen, nicht böse! Ich sehe ja ein, daß ich von all dem zu wenig durchschaue, und wollte, weiß der Himmel, nicht frech sein. Aber – ich mußte!«
»Und ich muß auch!« Und wild riß Goethe die Hand vom Gesicht zurück, die er, wie um sich zu verhüllen, vor das schaudernde Auge gehoben. »Ich muß gehn, wie ich gehe! Und tun, was ich tue! Du bist um vierzehn Jahre jünger, als ich. Was weißt du? Einmal kommt für den Mann, der sich der Mitte seiner Jahre nähert, der Augenblick, in dem er nur Eines noch sieht: sein Werk! Und er muß sich entscheiden! – Da ist der Wagen!« Und ohne noch ein Wort, einen Blick nach dem Jungen zu tun, über den brechenden Rasen auf Meyer, Schütz und Moritz los, die vor dem Fuhrwerk schon warteten. »Ich steige vor der Stadt aus,« sagte er, das Auge undurchdringlich über ihren verblüfften Gesichtern im Himmelgrün drin; »will noch etwas versuchen.«
»Maske!« zischte Schütz, kaum daß der Wagen unter dem Bogen der porta del popolo wieder angezogen ward. »Nichts als Maske! Ohne äußere oder innere Verkleidung kann er einmal nicht sein. Ich habe ihn gestern abend aus der osteria campana im Marcellustheater herauskommen gesehen. Da drin hat er gewiß nicht gezeichnet! Wen versucht er anjetzo?«
Vorerst: die geliebte Pforte. Von einem Schotterhügel auf dem rechten Ufer der Via Flaminia aus. » Salus intrantibus « las er mit todesverachtenden Augen, während Strich auf Strich danebenging. » Lasciate ogni speranza voi ch' entrate! « fluchte er, taumelnd zwischen einem Milchkarren, den ein Wolfshund zog, und einer Gemüsefuhr, als er eine Stunde später in den Platz hinausschritt; und warf das vierte mißratene Blatt in den Kot. Vor Santa Maria Miracoli machte er unschlüssig halt. An die Ripetta? Nein! Zornig drehte er um. Auf dem spanischen Platz wieder halt. Zu Angelica? Unsicher blickte er die zuckerweiße Stiege empor. Wie Fackeln des Alpenglühens stiegen die Türme der Trinità in die samtblau gedunkelten Lüfte. Zu Angelica also? Aber – zögernd nahm er zwei Stufen –: wann wurde endlich die Fontana Trevi gezeichnet? Und die Gemmen Piombinos studiert? Und die Zeichnungen vom Parthenonfries beim Ritter Wortley? Oder sollte zuerst mit Verschaffelt in Betreff der Perspektive geredet werden? Und die Circe im Palazzo Farnese? Ist sie schon durchgearbeitet? Die neugefundenen Stiche Piranesis, Lionardos Geliebte im Palazzo Barberini, ein farbendrohender Sodoma, . . . als ob ihn schwindelte, hob er die Hand an die Stirn. Stieg die zwei Stufen zurück. Und die angefangene Mondlandschaft? Und der begonnene Kopf des Minos? Und die Kolosse von Monte Cavallo? »Nein! Nicht zu Angelica! Angelica kann zeichnen!« Und wie ein Wild, das der niederträchtigste Jäger hetzt, floh er zurück in den Platz.
Als er das nächstemal die Stufen dieser Treppe emporstieg, lag schon der September über der Stadt. Dennoch: war etwa Licht geworden mittlerweile drinnen im Chaos? »Sie empfängt mich nicht!« sagte er sich grimmig vor, als er, auf der Höhe der Trinità angekommen, die Fenster von Angelicas Atelier verschlossen sah. »Auch sie verschnupft darüber, daß ein Dichter die Unverfrorenheit hat, zeichnen zu wollen!«
»Komm ich ungelegen?«
Mit heiß aufpochendem Herzen war Angelica erschrocken, als die Dienerin plötzlich die Tür aufgerissen hatte: »Der Herr Geheimerat!« Wie ein Mädchen nun lief sie ihm vom Podium herab entgegen; arglos verriet ihm das Auge die Freude der Seele. »Sie ließen mich wirklich nicht mehr hoffen, daß Sie mich suchen.«
Schweigend, rasch trat er bis zu den Fenstern vor. Raffte die fraiseroten Vorhänge in die Ketten, schlug die Läden hinaus, beugte sich lufthungrig über die lichtlosen Dächer. »Gott sei Dank, es kommt ein Gewitter!
Weitere Kostenlose Bücher