Goethe
sich selbst vervollkommnen. Der Mensch bildet sich aber nicht von außen nach innen, sondern umgekehrt. Die Welt erwirbt man nicht, indem man über ihre Länder und Meere dahinfliegt, sondern indem man irgendwo auf ihr wie in seinem Mittelpunkt tätig Wurzel faßt. Gewiß hilft es dem Charakter, sich besser zu erkennen, wenn er, nach stetem Beharren auf seinem Platze, einmal einen anderen aufsucht, um die Wirkung neuen Himmels, neuer Erde, neuer Menschen und Sitten auf ihn zu erproben. Aber, kehrt er nicht mehr zurück,« – Buchstabe für Buchstabe, wie aus tropfenweise hergebendem Brunnen kam's heraus – »dann heißt das ebenso gewiß: daß der lang behauptete Platz falsch und die Kraft, die dort betätigt wurde, vergeudet war. Darf ich die Moral aus dieser Reihe für Sie ziehen?«
»Ich bitte darum.«
Tiefatmend blieb Goethe stehen. Was er verlassen wollte, lag als Berg von Verantwortung auf der stürmisch bewegten Brust. Was ihn erwartete, befahl mit beschwörender Eindringlichkeit: bestelle vorerst, nach deinem Gewissen, dein Haus! Dir sind nicht Landfetzen anvertraut, abstrakte Geschäfte und Leute, die Material eines Regimes sind, sondern Seelen, die wiegen. Und bissig marternd im innersten Innern ging die Wunde jenes grausigen Augenblicks wieder auf: des verlogenen Abschieds von Charlotte. Umsoweniger durfte ein zweitesmal geschwiegen, gelogen werden! »Ich maße mir kein Recht darauf an, Ihrem Einflußdrang Grenzen zu setzen. Jeder bewegt sich gern, wie die Glieder es verlangen. Ich kenne Sie so gut, um ganz zu wissen, wie nur ein hoher Begriff von Ihrem Amte Sie dazu treibt, für die Fürstenbundsache so hitzig zu fechten.«
»Da wären wir also!« lachte Karl August nicht ohne Verlegenheit auf.
»Da sind wir. Jawohl! Ich habe mich, soweit nicht Sie mich zur Anteilnahme verpflichteten, von diesem Problem ferngehalten. Ich bin kein politischer Geist. Ich gehe also auch jetzt in die Einzelheiten des Zwecks und der Technik zu seiner Erreichung nicht ein. Ich sage nur so viel: auch wenn der Erfolg die Bemühungen gerechtfertigt haben wird, – Eines bleibt gewiß: der Herzog von Weimar hat seine beste Kraft seinem eigenen Land entzogen!«
»Weimar ist doch in Deutschland?«
»Trotzdem sehe ich die Gefahr: Deutschland zu nützen, ohne Weimar zu nützen.«
»Weil du kein Nationalgefühl hast!«
»Ich erblicke die deutsche Nation in der deutschen Kultur. Im Geistig-Sittlichen erfüllt sie ihre Sendung.«
»Kein Mensch lebt von der Seele allein; geschweige denn eine Nation!«
»Aber alle die Experimente der Fürsten und Staatsmänner, die sich um den Leib der Nationen kümmern, fragen gewöhnlich keinen Deut darnach, ob diese Experimente auch vom moralischen Schritt der Nation gefordert werden. Und darum geschehen sie denn auch fast alle und immer zu Abbruch des Innerlichen, lenken die Entwicklung der Nation von der Seele ab und erweisen sich am Ende – eines wie das andere – als simple Wiederholungen der sogenannten Weltgeschichte . . .«
»Von der du, sehr hochmütig, behauptest, daß sie keinen höheren Sinn habe, als den, dem dramatischen Dichter als Repertoire zu dienen!«
»Als Repertoire der immer gleichen Gegensätze zwischen Starken und Schwachen, der immer gleichen Ursachen, Mittel und Ausgänge des Kampfs zwischen beiden, – also der immer gleich barbarischen Rauflust und Mordgier, der selbst ein Evangelium Christi nichts anhaben konnte!«
»Und doch wird die deutsche Nation in wenigen Jahren von allen anderen auch moralisch für alle Zeiten überholt sein, wenn sie sich nicht endlich aufrafft aus der Schande ihrer Apathie!«
» Sie sich aufrafft! Denn so sehr ich der Ansicht bin, daß der innere Fortschritt einer Nation nur von den Einzelnen bestimmt, nur von Gipfeln hinaus- und hinabgeleuchtet wird in die Masse der Täler und Ebenen, – so sehr glaube ich, daß die irdische Sorge um ihren Hausbau der Nation als solcher muß vorbehalten bleiben. Sie wird sich schon rühren, wenn sie innerlich so weit ist!«
»Darauf kannst du lang warten!«
»Das kann niemand wissen. Was man aber gewiß weiß, ist dieses: daß es Preußen nicht einfallen wird, in der Fürstenbundsache für die deutsche Nation zu handeln. Das fällt Ihnen ein, aber nicht Preußen!«
»Da hört sich doch alles auf!« Bebend vor Zorn stampfte der Herzog in den Boden. »Was weißt denn du von der ganzen Geschichte? Ich kann von einem Staat nicht verlangen, daß er gegen seinen Vorteil politische Pläne
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