Goethe
halten Sie es dann nicht für möglich, daß es einem gelingen müßte, das Gesetz zu entdecken, nach dem die Kunstwerke geschaffen wurden, und jeden Tag neu geschaffen werden können?«
»Sie meinen . . . .?«
»Ich meine,« unterbrach Goethe hitzig, »daß den Menschen, soweit sie Künstler sein können, mit dieser Fähigkeit nicht mehr, aber auch nicht weniger eingeboren sein kann, als eben das Vermögen, gerade das zu machen, was nach der Idee der Schöpfung – natürlich verschieden in den verschiedenen Zeiten, Kulturen und Formen-Kreisen – zu einem Kunstwerk aus Menschenhand gehört.«
»So daß der Künstler . . .«
»Lassen Sie mich ausreden! Sie dürfen bei dieser Konstruktion keinen Augenblick lang vergessen, daß Ihre erste und letzte Prämisse die ist: das Kunstwerk ist Natur! Wenn Sie das nur für eine Sekunde außer acht lassen . . .«
»Ich verstehe!« Und nichts mehr wußte Moritz von der Folter des Abends. Leidenschaftlich, mit glühenden Wangen, Augen, die gierig verlangten, richtete er sich auf. »Sie meinen, daß man, ebenso wie man das Modell der Pflanzenwelt finden kann, auch das Urbild jeder einzelnen Kunstwelt finden könnte, und darnach dann mit Leichtigkeit das – Rezept, möchte ich sagen, die naturbeschränkte, nicht vermehrbare Anzahl von Rezepten, nach denen die Künstler arbeiten?«
»Re–zept?«
»Und es wäre dann also, gewissermaßen, keine besondere Kunst mehr, nichts Irrationales und Unerlernbares mehr, eine schöne Statue, ein bedeutendes Gemälde, einen Tempel und dergleichen zu machen, denn . . .«
»Ja! Ganz richtig! Gewiß! Völlig richtig! Aber: Re–zepte?«
»Sie können meinetwegen auch: Vorlagen, ideelle Typen-Vorlagen setzen?«
»Aber warum Sie gerade ›Rezept‹ sagen, ›Rezept‹? . . .«
Aber, zum Donnerwetter! auch wenn er es in Moritz selbst töten, als Ganzes vernichten oder in seine Buchstaben zerlegen und jeden Buchstaben ermorden wollte, es ließ sich nicht mehr ungehört machen, dieses Wort! In dieser Nacht nicht, und auch nach dieser Nacht nimmer! Unvertreibbar und rücksichtslos zwingend stand es von nun an über dem Eingang seiner Morgen, über dem Ausgang seiner Abende. Und höhnte. Denn: klang es nicht nach Handwerk? »Rezept?« Hatte es nicht einen ledernen Beigeschmack? Mehr noch, einen philiströsen? Eine Taktlosigkeit, oder eine Geschmacklosigkeit barg es. Im Grunde sogar bedeutete es einen Faustschlag. Allerdings: gerade in diesem Faustschlag den Mut, eben im Namen der Wahrheit einen Faustschlag zu tun. Oder: schaffen nicht alle Entdeckungen Trivialitäten, da sie doch Wunder in Binsenwahrheit verwandeln?
»Kayser,« bat er fieberhaft aufgeregt eines Abends – er hatte den ganzen Tag über einen Fuß modelliert – »setzen Sie sich her und spielen Sie diesen Fuß!« Und legte das Tonmodell auf das Notenbrett. Der Fuß war nach dem besten Abguß des rechten Fußes des sitzenden Mars gebildet, dazu der menschliche Fuß an einer Anatomie und an guten und schlechten Gipsen verglichen, und überdies der Typus eines Fußes des Kriegsgottes dem mythologischen Ares-Typus und dem vermuteten Formen-Typus des vermuteten Künstlers gewissenhaft gegenübergestellt worden. Und schien also gelungen. Tischbein allerdings, der in Kaysers Rücken saß, schmunzelte bedenklich. Moritz schüttelte den Kopf. Bury, unter der rauchenden Lampe noch immer am Liebesgeschenk arbeitend, brütete wehmütig in die Galathee hinein.
»Also?«
»Was soll ich nur über den glitschigen Tonfuß phantasieren?« lachte Kayser ratlos.
»Das, was er Ihnen eingibt!« Vollkommen klar war es Goethen: das Rezept – haften wir nicht mehr am Worte! – das Rezept hatte geholfen. Er kannte das Ur-Rezept; darüber hinaus aber auch schon eine ganze Anzahl der abgeleiteten Rezepte. »Nur, was er Ihnen eingibt! Nichts anderes!«
Kaysers Augen erkannten deutlich: den unleugbar verpfuschten Rist, die unfreien Zehen, das Gezwungene der ganzen Form. Plötzlich, hämisch, verließen seine Augen den Fuß und er griff in die Tasten. Es rauschte auf. »Ares!« fuhr es in seligem Verstehen durch Goethen. Und schon suchte der Fuß wegaufwärts; wegabwärts; stand jetzt stille; trippelte, schwankte . . .
»Bettler, der von San Lorenzo nach San Sebastiano hinkt!« flüsterte hinten Tischbein.
»Aber einer, dem siebenundsiebzig Dornen . . . . .«
»Könnt ihr nicht still sein, zum Teufel?«
Es wurde ganz still. Der Fuß schwankte noch ein Weilchen. Dann schritt
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