Goethe
über die Dächer des Vatikans. Vom Monte Mario hernieder glaubte ein feines Ohr die Pinien rauschen zu hören. Ein feines Auge sah, trotz den Mauern, die Wiesen der Villa Doria in hohes Gras schießen, um die Villa des Papstes Julius die Veilchen aufbrechen, in den Wäldern der Villa Borghese die violetten Anemonen geboren werden und um die Villa Albani die Mandelbaumkronen wehen. Eine feine Seele aber, die den stummen Leib des Nil mit ungewußten Gedanken abwanderte, die Schlange des Laokoon streichelte, die Brust des Antinous nach ihrem Geheimnis befragte, die ungeheure Starrheit dieser marmornen Leichen, als wären sie lebendes Fleisch, verleugnete, spürte aus dieser Starre, diesem Schweigen, diesen zitternden Tönen und Düften und Regungen der entbindenden Nacht: die Stunde des Lenzes.
»Nachtigall? Es kann doch noch keine Nachtigall . . . .?«
»Amsel,« murmelte Meyer.
»Zum Apoll!« befahl Hirth und schritt voran.
Aber kaum, daß der Flackerschein seiner Fackel Apolls rechten Arm traf, die Nacht zauberhaft gesprengt schien, ein Stern, groß und weiß, in der Mitte des Himmels auftauchte, riß Goethe entschlossen an Meyers Hand. »Laßt mich lieber allein!« Und im selben Augenblick sang der Vogel in Trillern, die wie auf kristallnen Spiralen ohne Hindernis aufstiegen in die Höhe des Himmels: die Stunde des Lenzes.
Rasenden Herzens an den Pfeiler gelehnt, das Gesicht furchtsam abgewendet vom Gotte, blickte Goethe den Fackeln nach, die zwischen den Büschen des Lorbeers verschwanden. Aber als sie nach wenigen Minuten zuletzt folgsam im Bogengang erloschen und die Nacht nur noch von der schwankenden Leuchte in seiner Hand ward durchzittert, überfiel ihn das Grauen wie ein Schauer den Geist: Wie wird der Gott entscheiden? Wie??
Als er zum zweitenmal, klappernd, fragte: »Wie wird der Gott entscheiden? Wie?« packte eine Handvoll Sturm seine Fackel, riß sie in einer Garbe hinter sein Haupt zurück, und er erblickte das Antlitz des großen weißen Sterns, wie es geheimnisvoll niederschaute auf ihn. Und sofort, totenbang, senkte er das Auge. »Platon,« flüsterte er, »Platon, bist du es?«
Aber nur der Vogel antwortete. Seine kleinen Augen – weiß Gott von wo aus? – in das Feuer des Sterns getaucht, sang er zum zweitenmal, mit Trillern, die ohne Hindernis auf goldener Leiter aufstiegen in die Höhe der Himmel: die Stunde des Lenzes.
Wurde am Ende in dieser Nacht die Welt geboren?
Einen Schritt vor tat er, schlotternd. Wußte: hinter mir, im Schein meiner Fackel, leuchtet der Gott! Und da oben, im Norden, hinter der Mauer, die die Roßtreppe des wilden Roverepapstes hinabspiralt in den sprießenden Boden, wartet mein Vaterland! Wenn nun die Welt in dieser Nacht geboren wird und ich halte morgen, wenn die Sonne aufgeht, diese Welt in den Händen und kann ihnen, heimgekehrt, diese meine Welt weisen?
»Sonne!« flüsterte er in brausendem Angstpuls. »Sonne!«
Gleich darauf bückte er sich. Hörte, während er sich über den Rasen beugte, der zwischen den marmornen Schranken wuchs, den Vogel die volle Lust der Welt singen über der Wonne ihrer endlich vollen Geburt. Sah, während er den weit vorgereckten Arm nach der kleinen Blume ausstreckte, die ihn niedergezogen hatte, den Stern mit Platons lichtem Auge herabblinken.
Und brach die Blume.
Zurückgekehrt in die steife Stellung der noch zögernden Furcht, die Blume in der einen, die Fackel in der anderen Hand, stand er wie betäubt. Warum sang der Vogel auf einmal nicht mehr? War der Stern plötzlich verschwunden? Bedeutete das etwa, daß die Stunde des Lenzes, die volle Geburt der Welt doch noch nicht angebrochen war? Daß der Gott, wenn er ihm endlich mit verwegener Fackel in sein Antlitz hineinleuchtete, zornig die Locken schütteln wird? Zornig verneinend?
»Platon!«
»Platon!« Bettelnd das Auge in den schwarzen Himmel hineingehetzt: »Rede!«
»Vogel! Vögelchen! Stimme! Stimmlein, – rede!«
Aber nur der Wind redete. In klirrendem Aufstoß fuhr er übers Dach des Palastes in den Hof herein und riß an der zaudernden Fackel.
»Nein! Noch nicht!« Steinern machte er den Rücken gegen den steinernen Pfeiler. Steinern die Beine, die, wehrhaft aufeinmal und trotzig in den steinernen Boden gestemmt, nicht mehr zitterten. Die Welt wurde heute geboren! Als ob sie von seinem Fleisch und seinem Blut wäre, barg er die Blume am Herzen. Als wollte er sich sinnfälligst dessen versichern, daß er auch Fleisch und Blut war wie jeder singende
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