Goethe
und ihn dann verlieren . . .?«
An wen? Woran hatte sie ihn verloren? An andere Frauen? Höchstens tage- oder wochenlange. An ein Land? Kann man einen Menschen an ein Land verlieren? An seine Kunst? War nicht sie der Quell seiner Kunst gewesen? Oder – doch nicht?
Es krähten die Hähne den grauen Junimorgen durch, da sagte sie: »oder an ihn selber? Aber warum ist er mir plötzlich ein Rätsel? Er war es doch nicht?« Und in derselben Angst, in der sie seit vielen Monaten jede Nacht durchweint hatte, weinte sie jetzt. Niederlage. Hilflosigkeit. Waffenlosigkeit. »Wenn ich nur wenigstens nicht dieses böse Gift da innen hätte! Lachen könnte, als ob nichts geschehen wäre! Ihm trällernd entgegenlaufen könnte, so daß er mir schon am Gesichte ansähe: es ist nichts gewesen! Dann machte ich ihn spielend auch glauben . . .«
Weinend breitete sie die Arme aus: Er war doch wenigstens wieder da!
Der erste Sonnenstrahl traf die Stadt. Den Knauf des Pfarrkirchturms. Golden erschimmerten die Tore. Alte Giebel wurden angezündet. Hohe rote Schornsteine. Das Fürstenhaus, die Schnecke, die Bibliothek, der Wall der Esplanade, im Land draußen Tiefurt, Belvedere, der hochgelegene Sitz des Geheimerates von Schmidt, – nun auch das Gartenhaus erwachten. Karren rollten übers regennasse Pflaster. Türen öffneten sich. Stuben öffneten sich. In ganz helle Morgengärten, durch Fenster, Tore und Flure sahen die Gäßchen. Die Hähne krähten lustiger. Zum Erfurter Tor zog eine Schar Gänse mit Hofbäckers Nannchen hinaus. Vor dem blauschattigen, geräumigen Haus am Frauenplan standen der Stadtschreiber Solmann und der Poliziste Wack. »Er ist eingerückt gestern. Mhm!« sagte der Stadtschreiber. Er war klein, dick, grau in grau gekleidet und nieste morgens halbe Stunden lang. »Helf Gott!« erwiderte zum zehntenmal der Poliziste. »Nu mag's wieder angehen! Er soll zudem viel Dreck mitgebracht haben.« – »Mhm.« – »Ein ganzer Wagen mit Steiner und Statue.« – »War schon immer hoidioh; halbets wenigstens!« nieste der Stadtschreiber. »Bleibt es!« – »Hier werdt man gern hoidio.« – »Wird die Steinin . . .«
»Hihihihi!« Und wollüstig lachten sie. Beugten sich in drallem Verstehen über ihre Bäuche.
»Siehe,« neigte sich in derselben Stunde der Wiedergekommene zärtlich über die endlich träumende Frau, »das ganze Land da unten, die sagenhafte Schönheit, die es hat, und den innigen Rausch, den einer erleiden muß, wenn er von da aus hinabkommt, – mit einem Schrei der Erlösung habe ich sie hinter mir gelassen, als es endlich hieß: nun ist der Pflicht genug getan! Geht es wieder nach Hause! In die Heimat! Zu dir!« Und mit sehnenden Armen, Armen gänzlich unverwelkter Liebe umarmte er sie; jünger, als je zuvor.
Mit einem strahlenden Lächeln erschien sie am Frühstückstisch. Was? Sie umarmte den Gatten? Goß ihm die Milch ein? Und Fritz bekam den Lockenkopf frisch an ihre Brust gedrückt? Als Stein aufstand, begleitete sie ihn bis an die Haustür. Mit freundlicher Mahnung schickte sie den Knaben auf seine Stube. »Ja. Aber erst lernen, mein Kind!« Glanz lag auf ihren Zügen. Hatte sie sich am Ende doch getäuscht? Unrecht getan? Als es zehn schlug, kam sie erhitzt aus dem Flur zurück. Noch einmal nachgeschaut hatte sie, ob Ordnung sei. Vor zwei Jahren, als er den letzten Besuch bei ihr gemacht, hatte sie seinen Ring getragen. Sie holte den Ring aus dem Schränkchen und steckte ihn an. Auch, erinnerte sie sich, hatte damals der Thymianstrauch, den er ihr selber eingesetzt, auf dem Tische gestanden. Sie brachte den Strauch herbei, stellte ihn auf den Tisch. Die Hauptsache aber war – tapfer trat sie von neuem vor den Spiegel – die Hauptsache war: daß sie ihm froh entgegenlief. Sonst bestand vielleicht Gefahr, daß er . . .
Daß er . . .?
»Ah!« Hochmütig machte sie sich groß. Stand es so, daß sie, Charlotte von Stein, vor dem Mann, den sie liebte, die großmütige Verzeiherin spielen mußte, um ihn wieder zu kriegen?
Nervös setzte sie sich. Peinlich rasch, wie Gewohnheit das Fremde verläßt, sank die nachgiebige Stimmung von ihr ab; fiel der eingeborene Eitelkeitsstolz wieder über sie. Als ob nicht die ganze Clique schadenfreudig gelacht hätte, damals, als sie geheim plötzlich verlassen worden war? Fürstenhaus und sein Komet nicht schon Wetten abschlössen, jetzt, in dieser Stunde, ob er sie wieder »beglücken« würde oder nicht? Und als ob es ihm nicht gleichsähe,
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