Goethe
jetzt, in dieser Minute, sein Genie über die Diele seiner Stube schreiten zu lassen, wohlgefällig, fähig, jederzeit für jedes Verlorene Ersatz zu finden und dabei zu schmunzeln: Na! Kein böses Wort zu sagen, wird sie sich getrauen!
Ah nein! Wild nahm sie den Stickrahmen in die Hände. Häßlich war sie jetzt. In den Wangen dunkle Löcher. Um den unüppigen Mund ein Zug von eiskaltem Haß. Die Gestalt eckig, hager; abweisend. Und dennoch: während sie nun stickte, als ob ihr alle sinnlosen Arbeiten einfielen, die in anderthalb Jahren nur dazu aufgenommen und getan worden waren, um die trostlos leere Zeit totzuschlagen, kamen ihr die Tränen. Wie durch ein kleines Scheibchen im Fenster, hinter dem sich der fahlblaue Himmel wieder fahlgrau machte, schien der reiche Himmel der Vergangenheit in die zwiespältige Seele herein. Kam der niemals wieder? Warum nicht? Ist es nicht trotz allem möglich, ja fast wahrscheinlich, daß er reuevoll heimkehrt? Im ersten Augenblick des Wiedersehns durch irgend einen göttlichen Zufall das Eis schmilzt und das Unvergängliche – »denn es ist doch unvergänglich!« – wieder auflebt? Wenn sie sich nur abrang, ein heiteres Gesicht zu machen, so zu scheinen, als ob nichts gewesen wäre, und –
Sie fuhr vom Sessel auf; es hatte geschellt.
»Der Diener von Wedeln!« Rasenden Herzschlags setzte sie sich zurück.
Wo ist – er?
Aber wie gefühllos langsame Wellen zerrannen die Stunden. »Nein,« sagten sie, je mählicher, unbarmherziger sie zurück wallten ins Meer, »wir wissen nichts! Wissen gar nichts!«
»Mama!« Fritz schaute, als es gegen Zwölf ging, beim zaghaft geöffneten Türspalt herein. »Weißt du, daß Onkel Goethe gekommen ist? Darf ich hinüber?«
»N – nein!«
Als das enttäuschte Gesichtlein verschwunden war, tat es ihr leid, daß sie »Nein« und daß sie es so scharf gesagt hatte. Wie ein Schimmer von Trost ging's über ihre Reue: wenn schon nicht meinetwegen, kommt er doch sicher des Buben halber! »Fritz!« rief sie unschlüssig in den Flur hinaus, – da schellte es zum zweitenmal.
Wachsbleich, mit aller Mühe gegen das Zittern kämpfend, das sie wie der Sturm packte, stellte sie sich mitten unter dem Lüster auf.
Herder trat ein.
Ein tiefer, höfisch ausgehauchter Atemzug verließ ihre hochaufgerichtete Brust.
»Ja, was sagen Sie dazu?« Mit dem ganzen rosig backigen Gesicht lachte Herder. Einen Strauß Margueriten trug er in der Hand. »Das ist eine Überraschung? Was?« Und indem er ihr mit einer nicht eindeutigen Geste – hie und da sind seine Augen unausstehlich! blitzte es in Frau von Steins Augen auf – den Strauß überreichte: »Er war noch nicht da?«
»Ich komme soeben von der Herzogin.«
»Er spart sich das Beste auf zuletzt auf.« Prustend setzte sich Herder nieder. Die prallen Schenkel, ein wenig zu kurz für den langen, geblähten Oberleib, saßen in der gewitterhaft stechenden Sonne. Er habe keine Ahnung gehabt. Karoline sagte jeden Morgen: paß auf, heute kommt er! Er kam natürlich nie. Und nun, – »ich gehe vor einer Stunde zu Amalia, sie hatte nach mir geschickt, – wer jagt aus dem Tor heraus? Er! Prachtvoll sieht er aus!«
Ruhig, das glattgewordene, regungslose Gesicht tief über den Rahmen gebeugt, stickte Frau von Stein weiter. »Augen,« fuhr Herder fort, »wie gesättigte Löwen. Löwen sage ich, denn das Erste nach unserer Umarmung war, daß er sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr, mich wütend anstierte und brüllte: Diese Käfige! Wie kann man's in solchen Kerkern nur aushalten!«
»Aber,« fuhr er nach einer Pause, in der Frau von Stein fast lustig aufgelacht hatte, fort, »aber – ich habe es ihm natürlich ins Gesicht gesagt, – etwas . . .Triviales, ja, wie soll ich sagen? etwas . . . Gewöhnliches steht in seinem Gesichte! Sie müssen es ihm wegwaschen!« Mit wehender Hand fuhr er durch die Luft. »Ich glaube: die Leute, mit denen er umging, waren un peu trop de bohême! «
»Und was sagt er von Italien?«
Sorglos lachte Herder. Es stand ja jetzt fest, daß er binnen kurzem mit Dahlberg hinabgehen würde! »Er macht mit der Hand einen verächtlichen Bogen um ganz Deutschland herum, wenn man ihn nach Italien fragt, mißhandelt mit dem Absatz den deutschen Kieselstein im deutschen Weg, und im übrigen, glaube ich,« – lauernd beugte er sein Gesicht tiefer – »wäre er uns nicht mehr gekommen, wenn nicht . . .«
» . . . . ich ihn gezogen hätte?«
Verblüfft stutzte Herder.
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