Goethe
mehr im Sinn hatte als diesem Strudel von Todesqual zu entfliehen, in die Schrecknis der Ecke. »Fragtest mich: aber jetzt liebst du mich nicht mehr? Und darauf sollst du die Antwort haben!« Wie? Er stand mit Charlotte, mit Charlotte! wie ein Feind gegen die Feindin im Kampf an dieser Wand da? »Ich habe mich mit vollem Bewußtsein abgekehrt von jeder Liebe, die meine Existenz einem zweiten Menschen so verhaften kann, daß von ihr nichts mehr übrig bleibt. Aber nicht aus Leichtsinn oder Kälte habe ich diese Operation an mir vorgenommen, sondern, – glaube mir . . .«
»Oder glaube mir nicht!« lachte er furchtbar auf.
»Wie du willst! Sondern, weil ich zur Einsicht gekommen bin, daß ich, wenn ich überhaupt noch etwas werden wollte, als Erstem nur noch mir leben dürfte!«
»Lache nur! Spotte nur!« keuchte er, gegen alle tyrannische Bändigung rannen ihm die Tränen über die zuckenden Wangen herab. »Ja! Ich sage es noch einmal: meinem eigenen Ich! Meiner Aufgabe an mir selber! Und daß du das verstehen würdest, dein Herz weit und groß genug sein würde, um zu begreifen, daß ich diesen Weg gehen mußte, aber, auch wenn ich ihn ginge, ja, welchen Weg immer ich ginge, dir nicht verloren gehen könnte, im Gegenteil, dir noch viel ganzer und wahrer gehören müßte, wenn du mir weitsichtig einräumtest, meine eigene Person auszuentwickeln . . .«
»Still!« Mit wahnsinniger Hand fuhr sie ihm an den Mund. Mit wahnsinnigem Leib, während das Schluchzen des steil aufschießenden Hasses, der fluchenden Verachtung aus ihrer dampfenden Brust brach, schob sie ihn von sich, tat sie, als er totenblaß bis in die Mitte des Zimmers zurückgewichen war, die entsetzten Hände von ihm weg und griff mit diesen Händen ins verworfene Haar. »Und wenn du dir dann hier in Weimar eine Maitresse anschaffst und ich deine eigene Person »weitsichtig sich ausentwickeln lasse«, . . . . Geh!« schrie sie ihn an, daß die Fenster klirrten, »oder ich . . . . .«
Im nächsten Augenblick, weil er wie angenagelt in der Diele unter dem Luster Stein wurde, schoß sie an ihm vorbei, sausend hinein in das Zimmer nebenan, schlug die Tür zu und riß den Riegel vor.
Langsam, nach einer Ewigkeit ganz toten Nachlauschens, ging er. Deutlich hörte sie seinen Schritt im Flur. Dann auf der Schwelle. Dann in der Gasse. »Babette!« kommandierte sie; da war volle Nacht in dem Zimmer. Fritz solle kommen. Als Fritz vor der Tür stand: Joseph solle kommen. Als Josef hereintreten wollte: »Was hat die Herzogin antworten lassen?« Und schon unterbrach sie das Greisengestammel. »Richte die Jagdkleider des Herrn Stallmeisters her!« Und nun, urplötzlich, wie Flut geißelnder Körner, brachen ihr die Tränen aus den Augen. Mit kleinen, elenden Schrittchen schleppte sie sich an den Nähtisch. Erblickte auf dem Kästchen an der Wand die kreisrunde Schale aus Meißen. Mit einem Sprung an die Wand! Mit tobsüchtigen Fingern an die Schale! »Ah!« In zwei große Hälften zerkrachte die Schale.
Aber erst, als sich die Scherben weder von den tobsüchtigen Händen, noch von den tobsüchtigen Füßen noch teilen ließen, fiel sie in den Sessel zurück. Ohne Leben zu sein schien sie nun. Die Augen, während die blutenden Hände das Gesicht hielten, gingen glotzend hinaus in die Laterne, die am Rande der großen Wiese stand. In der Lampe der Laterne saß das Nichts. Im Schafte der Laterne saß das Nichts. In den kreisrunden Schatten um den Schaft saß das Nichts. Hier im Zimmer, in allen Dingen, die sie umstanden, saß das Nichts. Im Himmel draußen, der wieder leise Regen träufelte, saß das Nichts. Aber in ihrem Blut, in ihrem Fleisch drin, in dieser hingeschlachteten Seele drin, da saß es erst ganz: als die Welt! Nein, es gab keinen Gott mehr! Nein, es gab keine Menschen mehr! Keinen Frühling, keine Sonne mehr! Nur noch Teufel und Bestien, die sich zerfleischten. Und die Hohlheit des grenzenlos sinnlosen Raumes, darin diese Bestien sich, ewig Nichts weiterzeugend, zerfleischten. »Du!« schrie sie fluchend aus dieser Hölle hinaus in die regnende Nacht und preßte die Fäuste an die ganz leeren Schläfen. »Du!«
Aber, der es hören sollte, hörte es nicht! Der es hören sollte, saß wie ein Leichnam neben dem Herzog unter dem Überdach seines Hauses vorm Garten. Karl August wußte den Grund dieses Todes nicht. Er hatte mit bewundernswert andauernd gespieltem Interesse römische Marmore, vesuvianische Laven, sizilische Kiesel,
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