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Goethe

Goethe

Titel: Goethe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert von Trentini
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sprang er, als der Nachtwächter unten Eins ausrief, auf. Der violette Sommerschlafrock wirbelte gefährlich um die fahrige Gestalt. »Nein! An dem Werther ändere ich nichts mehr! Ich kann nicht! Es geht nicht!« Und überhaupt! Durstig goß er ein Glas Rotwein hinab, biß, nur um etwas zu tun, in eine der drallen böhmischen Pflaumen, die auf dem gelbweißen Teller lagen. Ganz abgesehen von der Höllenqual, Hirn und Herz in lange schon überwundene Empfindungen, Überzeugungen, Erfahrungslosigkeiten zurückzuzwängen. –»Streiche ich einen Satz aus, dann kommt der Goethe von heut an seine Stelle, aber niemals der Goethe von damals!« Überhaupt aber, was war es denn, was er bisher geschrieben hatte? Stöhnend langte er den ›Faust‹ herab. Ein aus dem Unbewußten hervorgebrochenes, armseliges Fragment. Den ›Götz‹. Ein außerhalb aller Regeln in wirrem Zufallsgriff aus Konglomeratstoff herausgezerrtes Thema. Wenigstens stand diesem Werk gegenüber fest, daß es sich nicht in ein Stildrama umwandeln ließ! Aber ›Werther‹, von dem die Besserwisser verlangten , daß er ihn frisierte! Und – die anderen Dummheiten. Ja! Dummheiten! Spritzfahrten eines besoffen Weglosen, der nicht weiß: woher und wohin. Waren zum Beispiel diese ›Mitschuldigen‹ noch zu retten? Sollte die ›Geschwister‹ noch etwas verdaulicher machen können? Und ›Clavigo‹? Verzweifelt fuhr die Hand über die Augen. »Ich kann es nicht mehr lesen! Nicht mehr sehen!« Die Leute hielten dieses sorglos gedachte, sorglos gebaute, sorglos geschriebene Stück für pragmatische Kunst, wie jedes andere Stück von ihm! Und es war doch nur, wie jedes andere Stück von ihm, ein Stück Johann Wolfgang Goethe! Dies aber einzusehen, – »schauderhaft!« Hieß denn: sich selber bekennen, seine eigene, elende Menschlichkeit dadurch beruhigen, daß man sie niederschrieb, – hieß das: das Leben durch die Kunst bändigen? Was aber anderes als Fratzen der eigenen Vergangenheit, verjährte Taktlosigkeiten, schamrot vergessene Geschmacklosigkeiten, überwundene Kinderkrankheiten, grinste aus all diesen Wachsmasken ihm entgegen? War das noch er? Steckte nur in einem einzigen davon er? Der Jetzige? Schaudernd warf er den ›Clavigo‹ aufs Bett. Da schaute ihn ›Stella‹ an. Eishaut lief ihm den Rücken hinab. Ekel strömte im Munde zusammen. Sterben, in Staub zerfallen sollte der Künstler nach jedem Werk! Kein Dieb kann überlegener höhnen, wenn er, zum organisierten Einbruchdiebstahl vorgerückt, sich der anfängerhaften Dietriche erinnert, mit denen er die ersten Schlösser sprengte! »Wo ist ›Iphigenie‹?«
    Es kamen ihm die ›Vögel‹ in die Hand.
    Erleichtert glättete sich die verzerrte Miene. Endlich etwas, woraus der Pubertätsschmerz und die Hätschelhanserei nicht glotzten. Auftauend las er. Gerne. Lange, bis ihn, wie Ahnung von Aufklärung, die ›Iphigenie‹ zurückrief. Die erst machte ihn still. Wie ein boshafter Affe schaukelte das Weimarische Jammerleben, das ihm die Zeit selbst zu diesem Werke gestohlen hatte, hinter diesen Blättern. Dennoch: der Affe störte nicht. Nichts mehr störte auf einmal. Der Mann, der da vor dem pechschwarzen Fenster saß, darin plätschernd dunkel die Nacht rauschte, war wieder Goethe. Und zwar der jetzige! Hier stand nämlich nicht nur Gebeichtetes. Hier floß – zum erstenmal! – Inhalt und Form in Harmonie zusammen. Konnte ein Kunstwerk werden! Alles andere . . . . .
    Trotzdem! Jetzt rann der Glaube wieder! Erstand im ruhig gewordenen Geiste der Sinn für Stufen wieder. Man ist nicht Meister schon im ersten Sprung. Und gibt es einen rechten Dichter, der nicht beichtet? So fand denn Herder, als er am siebenundzwanzigsten nachmittags in die Stube trat, die vier Bände abgeschlossen. Mit einer einzigen Ausnahme: ›Iphigenie‹ war auf die Seite gelegt worden. »Also dieser da«, fragte Herder mit Polizistenblick, nachdem er das Wertherheft Blatt für Blatt durchgesehen hatte, »bleibt, wie er ist?« Und sogleich war Goethes mühsam erstrittener Gleichmut dahin. »Ich habe«, erwiderte er mühsam beherrscht, »die Fremdwörter herausgetan, Lotte maskiert und Albert Einiges von seiner Unausstehlichkeit genommen. Kestners können nun ruhig schlafen!« Aber Herder legte das Heft nicht weg. Die artig gestärkten Spitzenmanschetten fielen ihm kokett über die roten, haltenden Hände. Das pedantisch ausrasierte Kinn, mit voller Rundung an die glänzenden Wangen geschmiegt, wiegte sich, als ob es

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