Goethe
gemütlichen Dreißiger Schütz, umarmte er sie inbrünstig in einem alle drei, der Mund öffnete sich, wollte etwas sagen; nur ein hilfloses Lächeln erschien, im Strahl einer Träne.
Langsam, in zwei Paaren – die Jüngeren hinterdrein – schritten sie aus dem Hofe.
Schweigend.
Bis Bury – er verschlang Goethen von hinten mit seinen Augen – laut losplatzte: »Er ist mir lieber als zehn Apolls!«
»Er ist der Mensch«, erklärte Schütz fest, »der jeder von uns sein möchte.«
»Und sollte!«
»Aber nicht kann.«
»Mir gehen Lampen auf«, – dem genießerischen Schütz galt das Leben sonst mehr als die Arbeit! – »seit er da ist. Obwohl er wie Pythagoras schweigt.«
»Diese cherubinische Bescheidenheit! Diese kindliche Ehrfurcht! Wie er nie als der Goethe vor etwas hintritt!«
»Im Gegenteil: eben als der Goethe tritt er hin.«
»Weiß Gott, das Genie ist ohne Prätentionen!«
»Vor allem: ein guter Mensch ist das Genie.«
»Ja, das ist das Richtige!« Kreise von Feuer im passionierten Auge. »Dieser preußische Linealschlucker und Cicerone von einem Reiffenstein, zum Beispiel . . .«
»Fürchterlicher Kerl!«
»Aber wie hat er ihn umgekrempelt! Dissinvolto geradezu geht er, und Maul halten tut er, seit er Goethe kennt!«
»Und der Zucchi! Dieser wallische Kunstgeldler, der seine Frau magari prügelt, wenn sie nicht wöchentlich mindestens dreihundert Zechinen ermalt! Wie dieses Limonigesicht aloisianisch wird, wenn es ihn nur zu riechen kriegt!«
»Das ist alles nichts gegen sie, gegen die Angelica! Hast du sie nicht beobachtet, gestern, wie sie in einem einzigen Augenblick geradezu schön wurde, als er eintrat? Sie liebt ihn!«
»Sie liebt ihn?« Hell lachte Schütz auf. » Alle lieben ihn! Er kommt und sie lieben ihn. Braucht nicht einmal den Mund aufzutun, und sie lieben ihn. Weil sie merken, daß er sie liebt.«
»Und was merkt man lieber?«
»Die Siora Piera! Wenn der Carlo die Hosen vom Herrn Möller nicht ordentlich peitscht! Und der Carlo, wenn die Siora eine Zwiebelsuppe gekocht hat! Und beide, wenn das hinkende Luder von einer Domenica nicht früh genug sein Zimmer ausgekehrt hat: avanti, gobbino! Vuol scriver il sior Möller! «
Er verstummte: Goethe und Tischbein standen vor dem Torso des Herakles.
»Es geht die Sage«, sagte Tischbein, sein Gesicht schimmerte erregt über dem blausamtnen Künstlerwestchen mit den Silberknöpfen, »daß Michelangelo, als Greis mit erloschenen Augen, sich hieher führen ließ, um den Marmor, den er nicht mehr sah, zu betasten.«
»Apollonios Athenaios« stand auf dem schmalen Postamentsaume. Ungeheuer wölbte sich die Riesenbrust. Ungeheuren Taten entgegen? Oder auf der Rast nach ihnen, aber niemals fürder mehr frei von der Erinnerung an sie?
»Winckelmann meinte«, fuhr Tischbein gewissenhaft fort, »wenn den Apoll nur ein göttlicher Dichter schaffen konnte, so habe an den Herakles die Kunst ihre äußersten Kräfte gewandt, so, daß sie ihn den größten Erfindungen des Witzes und Nachdenkens entgegensetzen könnte.«
Aber Goethe sah bereits die Heimat des Herakles! Argos. Der heroisch in den lichtreichen Südosten des Archipelagos hinausgreifende Zipfel des Peloponnesos erstand vor seinen Augen. Das Gemach, in dem der wachsgelbe Torso wie die grausam verstümmelte Leiche der Menschheit schimmerte, war angefüllt mit dem kalten Abglanz der Morgenbläue, die seine marmornen Wände umwallte und schweigend und fern jedem Puls machte wie eine Gruft. Trotzdem redete der Torso. Was ein auserwähltes Volk durch die Wildheit und Willkür des ersten Bestands hindurch unbewußt auf jedem Schritt der Eroberung und Fortsetzung begleitet, dann hinangeleitet hatte zum Besitz seiner Gaben auf gefriedeter Erde, sprach wie mit Jahrhunderten aus jedem Muskel. Aus jeder Fiber aber: die Summe der Geburten, die dem Erwachen dieses Instinkts zur Zivilisation vorausbegangen waren; das Stück Kulturgeschichte, das die Reihe der Zeugungen bis zu der Zeugung des Helden in sich schloß. »Von Inachos stammt Herakles ab«, träumte Goethe, an einen Pfeiler zurückgelehnt, das Auge hoch oben in der glanzlosen Kuppel, vor sich hin, »von Inachos, dem ersten König von Argos.« Dessen Tochter Io gebar, vom Zeus nach Ägypten entführt, den Epaphos. Von diesem kommt die Königin von Libyen, Lybia. Von dieser Belos und der Phönikerkönig Agenor. Die Söhne des Belos, Aigyptos und Danaos entzweien sich. Danaos wandert nach Argos aus und nimmt Besitz vom Stamm und
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