Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
abends sehr lange dauern. Nach einem erneuten Knacken hörte ich wieder Dr.
Franke: »Tut mir leid, da haben Sie wohl Pech gehabt.«
»Ja, trotzdem vielen Dank, wenigstens
habe ich ihre Stimme …«
»Schon gut, Herr Wilmut, wir haben
nur zehn Minuten. Ich soll Ihnen noch etwas ausrichten von Herrn Kessler, wegen
eines Gedichts.«
»Ah ja, sehr gut!« Spätestens, wenn
ich entlassen wurde, wollte ich ihm von dem Kassiber berichten, im Moment waren
mir die Kommunikationswege noch zu unsicher.
»Es gibt zwei Orte namens Frauenstein,
soll ich Ihnen sagen. Einer liegt im Erzgebirge, der andere ist ein Stadtteil von
Wiesbaden. Dann gibt es noch eine Burg Frauenstein in Österreich. Ich hoffe, Sie
können damit etwas anfangen.«
»Ja, ja, kann ich, vielen Dank.
Das ist sehr gut!« Ich war ganz begeistert und wollte dem noch mehr Ausdruck verleihen,
als mir die zehn Minuten wieder einfielen. »Sonst noch etwas?«
»Ja, in Jena gibt es eine Tanzschule
Jänder, mehr habe er zu diesem Stichwort nicht gefunden.«
»Okay!«
»Und dann noch so ein komisches
Kürzel: BB618c, sagt Ihnen das etwas?«
»Ja, ja!«, rief ich aufgeregt, in
diesem Moment machte es klick und unser Gespräch war unterbrochen. Die zehn Minuten
waren abgelaufen.
Ich rief laut »Mist!« und warf den
Hörer unsanft auf die Gabel.
Zurück in der Zelle, stand mein
Abendessen schon bereit. Es gab Pfefferminztee, Leberwurstbrot und Gurkensalat.
Ich ärgerte mich so wegen des abgebrochenen Gesprächs, dass ich so gut wie nichts
essen konnte. Nur den Gurkensalat probierte ich. Er schmeckte so schauderhaft, dass
ich Mühe hatte, ihn herunterzuschlucken. An einem Gurkensalat konnte man eigentlich
nicht viel falsch machen, die Gefängnisküche hatte es trotzdem geschafft. Ich trank
den Tee. BB618c – diese Information wäre am wichtigsten gewesen. Bevor ich Gelegenheit
hatte, mich noch mehr zu ärgern, kam Grasmann und brachte mich in den Sanitärbereich
zum Duschen. Ich könne mir Zeit lassen, meinte er, ich sei ganz allein.
Ich hängte mein Handtuch an einen
der vielen leeren Haken und warf meine Kleidung auf einen Hocker. Den Kassiber,
den ich sorgsam in meiner Unterhose versteckt hatte, legte ich zuunterst auf den
Sitz. Das warme Wasser tat gut, es wirkte wie eine beruhigende Medizin, löste Spannungen.
Ich ließ es lange und heiß über meinen Körper laufen. Dann schäumte ich meine Haare
und massierte die Kopfhaut. Als ich die Augen wieder öffnete, hing neben meinem
Handtuch ein grünes Hemd.
Normalerweise bin ich nicht so leicht
in Panik zu versetzen. Doch inzwischen war mein Leben nicht mehr normal. Es drohte
zu kippen. Es drohte, sich in einen bloßen Ablauf von Ereignissen zu wandeln, auf
die ich keinen Einfluss hatte.
Als ich das grüne Hemd sah, hatte
ich nur noch einen Gedanken: Raus hier! Ich schnappte meine Kleidung vom Stuhl und
rannte los. Nachdem ich an der Tür um die Ecke geschossen war, merkte ich noch,
dass ich plötzlich das Gleichgewicht verlor. Das war das Letzte, woran ich mich
erinnerte.
*
Der hagere Mann dachte an die Zeit direkt nach der Maueröffnung. Er
war damals 19 Jahre alt gewesen. Völlig begeistert hatte er sofort seine Sachen
gepackt, um in den Westen zu fahren. Er sah die Situation noch genau vor sich, so
als sei es gestern gewesen: Am 10. November 1989 hatte er seine Ersparnisse bei
der Staatsbank in der Steubenstraße abgehoben und am 11. November war er mit dem
Zug nach Gießen gefahren. Am nächsten Tag bekam er im Notaufnahmelager an der Margaretenhütte
sein Begrüßungsgeld, genau 100 DM. Er wollte einkaufen. Eine Frau schickte ihn in
den Globus-Handelshof nach Dutenhofen, einem kleinen Ort in der Nähe. Als er aus
dem Bus stieg und den Supermarkt betrat, glaubte er, seinen Augen kaum zu trauen.
Regale, so hoch wie ein Einfamilienhaus in der DDR, voll mit Schokolade, Raviolidosen,
Bananen, Comicheften und Mundwasser. Er war überwältigt. Und zugleich zornig. Hatten
die Parteikader ihm nicht erzählt, dass es den Menschen im Kapitalismus schlecht
ginge? Ja, das hatten sie ihm glaubhaft gemacht. Er setzte sich auf einige Persilkartons
und begann zu weinen. Er weinte so hemmungslos, dass sogar Menschen stehen blieben
und ihn fragten, ob sie helfen könnten. Er schüttelte den Kopf, nein, sie konnten
nicht helfen. Am Ende sorgte er sich sogar um das Persil, dass es von seinen Tränen
nicht plötzlich anfangen würde zu schäumen.
Als er sich wieder beruhigt hatte,
begann sein Kaufrausch. Er packte den
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