Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut

Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut

Titel: Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Köstering
Vom Netzwerk:
sich selbst verraten hat, sich mit dem Diktator ins
Bett gelegt hat. Beim ersten Mal hab ich mich gefühlt wie eine Nutte. Bin aufgestanden
und hab gekotzt. Aber mein dämliches Hirn konnte ich nicht auskotzen. Stattdessen
hab ich ’ne ganze Flasche Nordhäuser in mich reingekippt. Später folgten unzählige
mehr davon.«
    Sie schwieg.
    »Der Diktator …« Erst als die Worte
meinen Mund verlassen hatten, merkte ich, dass sie weder wie eine Frage noch wie
eine Feststellung geklungen hatten.
    »Ja, der Diktator«, wiederholte
Karola. Sie stellte ihre Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte ihr Kinn auf
die Hände, so als sei ihr der Kopf zu schwer geworden. »Wer war eigentlich der Diktator?
Der Staat, die Partei, Ulbricht, Honecker, Breschnew? Oder die Proletarier?«
    Ich horchte auf. »Wieso die Proletarier?«
    »Na, die DDR – Diktatur des Proletariats.
Musst du doch kennen, den Spruch!«
    In Gedanken sah ich rote Spruchbänder
vor mir, am Hauptbahnhof, am Nationaltheater, in der Schillerstraße, neben dem Goethehaus
– eigentlich überall.
    »Ja, klar, kenne ich.«
    »Na, siehst du!«
    Wir sinnierten beide eine Weile
vor uns hin. Nebenan hörten wir Hanna mit ihrer Mutter reden. Der Wunsch nach einem
Espresso überfiel mich. Keiner in Sichtweite, da musste ich jetzt durch.
    »Die Erinnerung schmerzt …«, wiederholte
ich.
    »… und daraus entsteht eine gewisse
Ostalgie«, sagte Karola.
    Ich sah sie verständnislos an.
    Sie schüttelte unwirsch den Kopf.
»Na, ist doch klar, die DDR ist seit 15 Jahren Vergangenheit, viele Menschen schauen
zurück und verklären die Zeit, weil sie sich selbst keine Schmerzen zufügen wollen.
Und weil sie hauptsächlich an ihre Kindheit oder Jugend denken. Die war meistens
schön. Das kleine Glück findet auch in einem weniger beglückenden Staat statt. Hat
der Bundespräsident mal so gesagt. Die persönliche Sichtweise überlagert die geschichtlichen
Fakten. Das geht teilweise so weit, dass Tote an der Grenze, Stasimachenschaften
und Zwangsadoptionen schöngeredet werden, nur um sich der unbequemen Wahrheit nicht
stellen zu müssen. Du kennst die Sprüche: So schlimm war es doch gar nicht …«
    Ja, ich kannte diese Sprüche.
    »Niemand hat Interesse an einer
partiellen nationalen Depression«, fuhr sie fort, »und dazu kommt dann noch die
Arroganz vieler Wessis.«
    Ich sah sie überrascht an.
    »Keine Verallgemeinerungen – mag
ich nicht. Aber einige Wessis haben’s heftig übertrieben: Rote Socken, müsst erst
mal arbeiten lernen, was habt ihr 40 Jahre lang überhaupt gemacht und so weiter
…«
    Ich hob die Hand. »Schon klar. Du
meinst also, die Arroganz eines Teils der Westler fördert die Ostalgie?«
    »Genau das meine ich.«
    »Du machst dir Gedanken«, antwortete
ich, »das ist gut!«
    Hanna rief nach ihr. Wir erhoben
uns. Ich legte meine Hand auf Karolas Schulter. »Dr. Gründlich kommt heute Abend
wieder, gegen 20 Uhr. Es ist vielleicht besser, wenn du so lange einen Spaziergang
machst.«
    Sie nickte.
     
    Seit meinem Aufstand gegen die drei Grünhemden in der Brasserie am
Rollplatz war ich noch nicht wieder bei Thomas gewesen. Es wurde Zeit für eine Erklärung.
Und hoffentlich für eine Versöhnung. Ich trat ein und sah nur wenige Gäste an den
Tischen. Für den frühen Abend völlig normal. Thomas war in der Tat ziemlich sauer.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er überhaupt bereit war, mir zuzuhören. Als ich
ihm erklärte, dass ich im Gefängnis gewesen war, meinte er nur lapidar, das geschähe
mir recht. Nachdem ich hinzugefügt hatte, dass ich des Mordes verdächtigt wurde,
besann er sich. Das sei ja nun wirklich Quatsch. Ich lud ihn auf einen Averna ein,
und er setzte sich zu mir an den Tisch. Während seine Bedienung sich um die anderen
Gäste kümmerte, erzählte ich ihm alles, was passiert war. Er hörte mir genau zu
und schüttelte mehrmals ungläubig den Kopf. Wir tranken einen Averna und noch einen
und einen dritten. Dann hatten wir uns wieder versöhnt. Ein hartes Stück Arbeit.
Die Brasserie füllte sich zusehends, Thomas musste arbeiten, ich ging nach nebenan
in meine Wohnung.
    Kaum hatte ich den mächtigen Riegel
eingerastet, fiel mir Onkel Leo ein. Onkel Leo und seine beiden Aufgaben. Ich rief
ihn an und erklärte ohne große Umstände, dass alles erledigt sei. Ich merkte, dass
er gerührt war, auch wenn er das nie zugegeben hätte. Seine Familie ging ihm über
alles. Und wir beiden hatten eine unausgesprochene Verbindung: wir vermissten

Weitere Kostenlose Bücher