Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
machen.«
Sie hob den Kopf. »Du machst dir
Gedanken«, sagte sie, »das ist gut. Diesmal sogar die richtigen.«
Trotz der ernsten Situation musste
ich lachen. »Diesmal … ja, und was war beim letzten Mal?«
»Na ja, ich war … ziemlich schräg
drauf, ich hasse Beerdigungen, und du warst ein willkommenes Opfer!«
»Ein Opfer ?«
Sie grinste. »Ja. Ich brauchte jemanden
zum Abreagieren. Hat Spaß gemacht.«
»So, so, Spaß gemacht.«
»Dir nicht?«
»Nein.«
»Solltest du nicht so eng sehen.
Mit dir kann man jedenfalls gut diskutieren.«
Ich sah sie überrascht an. »Obwohl
ich ein Westler bin, kann man mit mir gut über die DDR diskutieren?«
»Natürlich, wenn wir nur über das
diskutieren würden, was wir selbst erlebt haben, hätten wir kaum noch Diskussionen.«
Wir prosteten uns mit den Bierflaschen
zu und tranken. Beim Nachdenken über unsere erste Diskussion fiel mir ein, dass
dabei ein Thema offengeblieben war. War es der richtige Zeitpunkt? Ohne Zuhörer,
nur sie und ich und zwei Flaschen Bier …?
»Karola, bei unserem letzten Gespräch
sind wir an einer Stelle hängen geblieben …«
»Die Mauertoten?«
Ich war sehr überrascht. »Genau!«
»Dresden war zu weit weg, wir hatten
keinen Kontakt zu Grenzflüchtlingen, auch nicht zu Angehörigen von Mauertoten, wir
hatten nicht einmal Westfernsehen. Nein, damit hatte ich nichts zu tun.«
Sie sagte das ohne die unterlegte
Aggressivität unserer ersten Diskussion, alles in einer ruhigen, sachlichen Art,
so als zitiere sie aus einem Zeitungsartikel.
»Aber … hatte euer Staat nicht etwas
damit zu tun?«
» Unser Staat?« Sie wiegte
den Kopf hin und her. »Das war nicht wirklich unser Staat. Lediglich der
Staat, in dem wir zufällig lebten. Und wie du weißt, hatten wir keine andere Wahl,
im Gegensatz zu euch.«
»Nach dem 13. August 1961 nicht
mehr, das stimmt. Davor schon. Meine Eltern stammen aus Weimar, ich wurde hier geboren.
Sie hatten noch die Wahl – 1959 – und sie entschieden sich gegen die DDR.«
»Hmm, meine Eltern haben sich anders
entschieden. Mein Vater aus Überzeugung, meine Mutter aus … na ja, sagen wir, aus
Bequemlichkeit. Ich wurde nicht gefragt.«
»Ich auch nicht«, erwiderte ich.
»Armer Kerl!« Sie grinste.
»Wärst du auch gerne vor dem Mauerbau
rüber in den Westen?«
»Tja, gute Frage. Ich weiß bis heute
nicht, ob ich mich im Kapitalismus wohlgefühlt hätte. Natürlich ist die heutige
Marktwirtschaft nicht mehr vergleichbar mit dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts,
wie es uns im ML-Unterricht versucht wurde beizubringen, aber trotzdem: Im Grunde
regiert das Geld.«
»Und du meinst, in der DDR war das
anders?«
Sie sah mich entgeistert an. »Ja,
natürlich war das anders!«
»Das sehe ich aber nicht so: Devisen
über alles, Zwangsumtausch für Besucher aus der BRD, Gefangenenaustausch gegen harte
Währung, die Qualitätsprodukte der DDR wurden ins kapitalistische Ausland geliefert,
statt die eigenen Bürger zu versorgen, und so weiter …«
»Ja, schon …«
»Ja, schon? Aus finanziellen Gründen
blieben die DDR-Bürger unterversorgt, es wurde gegen die Menschenrechte verstoßen
und das Staatsprinzip – in dem Fall das sozialistische – wurde verraten. Wo ist
denn da der Unterschied zum Kapitalismus?«
Sie sah mich erstaunt an. Und sie
antwortete nicht.
Ich nahm einen Schluck Bier. »Es
gab viele gute Dinge in der DDR, aber das, was schlecht war, sollten wir nicht vergessen.«
»Tun wir nicht«, murmelte Karola,
»tun wir bestimmt nicht.«
»Aber warum habe ich dann ständig
das Gefühl, dass die Menschenrechtsverletzungen in der DDR nachträglich … heruntergespielt
werden?«
Sie hob die Schultern. »Weiß nicht
…«
Ich wusste nicht, ob das schon alles
war.
Karola sah mich offen an. »Vielleicht
weil die Erinnerung schmerzt. Die Erinnerung an sein eigenes Verhalten. Zuerst beginnt
man, sich an das Gedankengut des Diktators zu gewöhnen. Irgendwann wird das Unnormale
normal. Dann beginnt man, mit dem Diktator gemeinsame Sache zu machen. Zunächst
merkt man es gar nicht, es erscheint einem folgerichtig, geradezu natürlich. Viele
andere denken schließlich genauso. Wie sagt man so schön: Esst mehr Scheiße, Millionen
von Fliegen können sich nicht irren! Dann redet man sich ein, dass es ja nur das
Gedankengut ist, mit dem man sich solidarisiert, nicht der Diktator selbst. Aber
spätabends im Bett, wenn man zur Ruhe gekommen ist und nachdenkt, dann merkt man,
was man getan hat. Dass man
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