Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
zweiten Stock hochgekommen, es gibt keinen Aufzug.
Und sie hat ein Alibi, war den gesamten Abend im Jugendclub der Kirchengemeinde,
dann haben sie zwei Jugendliche nach Hause gebracht.«
»Und ihr Bruder?«
»Der wohnt schon seit Jahren in
der Innenstadt und ist an seiner Schwester nicht sehr interessiert. Sagt sie selbst
und auch die redselige Rentnerin von nebenan. Außerdem hat er keine direkte Verbindung
zu Hans Gegenroth. Auch nicht zu dir. Und er hat ebenfalls ein Alibi, war bei einem
Kumpel, einem Herrn Zöld.«
»Zöld? Komischer Name …«
»Ja, klingt irgendwie slawisch,
oder?«
»Eher ungarisch, ich frag mal Tante
Gesa bei Gelegenheit. Irgendwie kommt mir dieser Name bekannt vor …«
»Woher?«
Ich schüttelte nachdenklich den
Kopf. »Tut mir leid, ich komme nicht drauf.«
»Gut, dann habe ich einige Erkundigungen
über diesen Dr. Gründlich eingeholt.« Er grinste. »Interessante Figur, kam vor etwa
fünf Jahren aus Rostock nach Weimar. Dort ist er aktenkundig wegen Drogenvergehen.«
»Aha, Selbstmedikation?«
»Genau, so wie die Kollegen in Rostock
berichten, nutzte er die Drogen nur für den Eigengebrauch. Ansonsten bescheinigen
ihm die Mediziner in der Uniklinik hohe Sachkenntnis. Hervorragender Arzt, sehr
patientenorientiert, guter Pharmakologe.«
»Ach, du liebe Zeit, ich weiß nicht,
ob ich Hanna das sagen soll …«
»Besser nicht.«
Ich zuckte unentschlossen mit den
Achseln.
Unser Essen kam, wir speisten, ohne
zu reden. Manchmal tut es gut, gemeinsam zu schweigen. Als ich das Besteck beiseitegelegt
hatte, sah ich zufällig aus dem Fenster, Richtung Südosten. Hinter dem Gebäudekomplex
des Roten Schlosses stieg eine große, dunkle Rauchsäule in den Himmel. Ich konnte
sie nicht genau lokalisieren, konnte auch nicht sagen, was dort wie lange schon
brannte. Doch ohne mein Zutun stieg eine eigene, innere Rauchsäule der Ahnung in
mir auf. Wie in einem Albtraum sah ich mich neben Hauptkommissar Dorst und Frau
Knüpfer sitzen und hörte mich sagen: »Die Bibliothek brennt!«
12. Kapitel
Freitag, 3. September 2004. Der Tag der Verdammnis und Erhörung.
D er Rest ist nur sehr schwer zu beschreiben. Ich versuchte es dennoch,
am Freitag früh gegen 2 Uhr, als ich völlig verrußt und verdreckt vor Hannas Tür
stand.
Sie hatte schon von dem Desaster
gehört und auf mich gewartet. Feuerwehren aus dem gesamten Umkreis waren unterwegs,
Polizei, Blaulicht, Sirenen, ganz Weimar stand unter Schock. Die Nachricht verbreitete
sich wie ein Lauffeuer, die Berichterstatter überschlugen sich.
Ich stand vor ihrer Tür, unfähig,
mich zu bewegen, in einer Art Schockstarre. Hanna zog mich herein, schob mich unter
die Dusche, brachte mir frische Kleidung, zum Teil von ihrem Vater, briet mir ein
Spiegelei, das ich aber nicht hinunterbekam, öffnete mir eine Flasche Bier, selbst
die konnte ich nicht ertragen, nur ein Glas Wasser und ein Stück trockenes Brot.
Langsam, ganz langsam begann ich
zu erzählen, von der großen, grauen Rauchsäule, von den Flammen, die aus dem Dach
herausschlugen, von Dr. Knoche, der mit seinem Fahrrad die Ackerwand herunterkam
und wie paralysiert vor der brennenden Bibliothek stand, von den vielen Feuerwehrleuten,
die verzweifelt versuchten, das Gebäude zu retten, von den Hunderten von Helfern,
die viele, viele Bücher in Sicherheit gebracht hatten, diese zunächst auf die Straße
gelegt hatten, bis Albert Busche dann auf die Idee gekommen war, das unterirdische
Archiv zu öffnen und die Bücher sofort dorthin zu bringen, mit Menschenketten, die
Buch um Buch weiterreichten, von den vielen Weimarer Bürgern, die draußen standen,
helfen wollten, aber nicht konnten, denen die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben
stand, die täglich eher unachtsam an der Bibliothek vorbeigegangen waren, sich nun
aber in einer kaum erlebten Solidarität um das Erbe Anna Amalias, Carl Augusts und
Goethes sorgten.
Und natürlich erzählte ich Hanna
von dem Moment, als ich Albert Busche am Kragen packte und ihn anschrie, dass wir
jetzt sofort nach BB618c suchen müssten, das sei lebenswichtig für mich. Noch vor
zwei Tagen hätte er mir mit einem wohldosierten Schwall thüringischer Schimpfwörter
geantwortet. Nicht so in dieser Nacht. Er gab mir lediglich ein Zeichen und ging
wortlos voran, durch Rauchschwaden und Löschwasserfontänen bis in den Rokokosaal,
eine schmale Treppe hinauf zur ersten Galerie. Feuerwehrleute mahnten lautstark,
das sei zu gefährlich, wir sollten da
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