Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
gehen: Ich glaube, er wollte alle seine Opfer bestrafen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Jedes Opfer wurde auf unterschiedliche
Art umgebracht, auch für mich hat er sich eine ganz spezielle Methode ausgedacht:
lebenslang unschuldig im Gefängnis sitzen. Fast so schlimm, wie zu sterben.«
»Vielleicht sogar noch schlimmer.«
»Möglich. Ich weiß nur noch nicht,
für was ich bestraft werden soll. Diese Spur könntest du für die anderen Opfer auch
verfolgen, irgendwo müssen die Stränge zusammenlaufen. Und morgen weiß ich vielleicht
mehr über BB618c.«
»Gut. Das ist auch dringend notwendig.
Nach der Anzeige gegen dich ist Lehnert wieder sehr misstrauisch geworden. Er weiß
nicht, was er tun soll …
»Wie meinst du das?«
»Er braucht dich einerseits, um
den Fall zu lösen, ist sich aber immer noch nicht sicher, ob du nicht selbst die
Lösung des Falls bist, verstehst du?«
Ich wickelte das Telefonkabel mehrmals
um meinen Finger und starrte ihn an, bis er blau wurde.
»Verstehe.«
»Er hat mich angewiesen, dich nicht
aus den Augen zu lassen!«
»Aha.«
»Das geht natürlich nicht. Außerdem
vertraue ich dir.«
Ich schluckte.
»Aber bitte, Hendrik, tu nichts
Unüberlegtes, im Zweifelsfall frag mich vorher.«
»Okay!«
»Wir waren übrigens auch nicht untätig
heute, es gibt ein paar Neuigkeiten.«
»Und?«
»Können wir uns heute Abend treffen?«
»Ich … ich muss gleich auf eine
Sitzung. Danach will ich Hanna helfen, einkaufen und so, frühestens ab 19 Uhr.«
»Gut, viertel nach sieben im Café
Resi.«
*
Der hagere Mann hatte über seinen Informanten in der Justizvollzugsanstalt
erfahren, dass Wilmut wieder frei war. Er wollte das kaum glauben. Um sicherzugehen,
beobachtete er den gesamten Mittwoch über Wilmuts Wohnung am Rollplatz. Tatsächlich
kam dieser am Abend nach Hause, ging vorher noch in die Brasserie, schien sich sogar
mit dem Wirt wieder versöhnt zu haben und bekam anschließend Besuch von einem Glatzkopf.
Und nicht nur das: Auch Hanna Büchler
bewegte sich unbehelligt in ihrem Haus in der Humboldtstraße. Offensichtlich war
sie gar nicht festgenommen worden.
Der hagere Mann fuhr zurück in seine
leere Wohnung in der Bonhoefferstraße. Er war so frustriert, dass er sein kleines,
schwarzes Notizbuch gegen die Wand schleuderte. Dann trat er voller Wut in den stinkenden
Haufen Raviolidosen, sodass diese lärmend auseinanderstoben. Die Wand war bedeckt
mit einer Spur eklig roter, halb verschimmelter Raviolireste. Ähnliche Spuren hatte
er schon in Splatter-Filmen gesehen. Er hasste Blut.
*
Das ›Café Residenz‹, kurz ›Café Resi‹ genannt, war neben der Brasserie
am Rollplatz und dem Café-Laden in der Karlstraße mein drittes Ersatzwohnzimmer.
Wir setzten uns an einen Tisch vorne an der Ecke mit Blick auf das Residenzschloss.
»Wie geht’s denn Frau Büchler?«,
fragte Siggi als Erstes.
»Nicht gut, sie baut zusehends ab.
Hanna ist bei ihr, sie kann sie nicht allein lassen. Und Karola, na ja, du weißt
ja …«
»Ja, untergetaucht. Ein Mann?«
»Sieht so aus. ›Ich muss ihn unbedingt wiedersehen.‹ Ob das ausgerechnet jetzt sein muss?«
»Solche Dinge lassen sich manchmal
nicht aufhalten, das weißt du selbst.«
»Ja, ja. Und – was meint Lehnert?«
»Unverändert. Schwankend zwischen
Misstrauen und Hoffnung.«
»Kein neuer Haftbefehl gegen mich?«
»Nein, aber er will dich sehen.
Morgen Mittag, 12 Uhr, im Polizeipräsidium.«
»Warum?«
»Wegen der Schlägerei in der Brasserie.
Wir müssen dem nachgehen, wir können das nicht einfach ignorieren.«
»Schon klar. Jetzt bin ich aber
gespannt auf eure neuen Ermittlungsergebnisse …«
Siggi lächelte. »Ich habe mir Sabine
Grüner nochmals vorgenommen. Ihre erste Aussage war sehr detailliert und differenziert.
Aber ich hatte den Eindruck, dass etwas Wichtiges fehlt.«
»Aha, Spürnase!«
»Nach über einer Stunde sind wir
auf den Punkt gekommen. Sie hatte ein Verhältnis mit Fedor Balow.«
Ich pfiff leise durch die Zähne.
Siggi öffnete sein kleines, schwarzes Notizbuch.
»›Allerdings sind die Tatsachen
mit diesem Wort nur ungenügend beschrieben.‹ Das ist ein Originalsatz aus dem Vernehmungsprotokoll.
Balow war der erste Mann, der sich nach Sabine Grüners Unfall – Kopfsprung in den
Hohenfelder Stausee – ernsthaft für sie interessiert hat. Schließlich hat er sie
nach zwei Jahren verlassen. Sie kann es aber nicht gewesen sein, sie wäre nicht
die Treppe zu Balows Wohnung in den
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