Goetheruh
Tür. »Komm Hendrik, wir müssen los!«
Ich folgte ihm bereitwillig, froh darüber, dass er die Initiative ergriffen hatte. Zehn Minuten später standen wir in der Geleitstraße vor Johns Wohnungstür. Meine Gedanken schweiften zurück zu dem schönen Abend mit Hanna und Cindy und der selbst zubereiteten Pizza. Was war nur plötzlich los? Irgendwie löste sich alles um mich herum in Einzelteile auf.
Ich klingelte. John sah schlecht aus. Dunkle Augenringe und fahle Haut ließen ihn um einige Jahre älter aussehen.
»Come in!«
Ich ging voraus ins Wohnzimmer. »Das ist Siggi, er ist Kriminalhauptkommissar!«
»Why a Kommissar?«, fragte John konsterniert.
Ich überließ Siggi die Antwort.
»Kann ich deutsch sprechen?«, fragte er.
»Yes, ja, bitte!«, erwiderte John nervös.
»Hendrik hat mir erzählt, dass Ihre Frau verschwunden ist. Wann haben Sie Cindy zum letzten Mal gesehen?«
»Tuesday morning, here in our flat, at nine in the morning before I left for Munich!«
»Aha, also am Dienstagmorgen um 9 Uhr …« Siggi machte sich einige Notizen. »Und haben Sie danach noch mit ihr telefoniert?«
»Yes, after I arrived in Munich, about 2 p. m.«
»Um 14 Uhr nachmittags, gut, und das war das letzte Mal, dass Sie mit ihr gesprochen haben?«
»Yes …«, John kämpfte mit den Tränen. »Sorry!«
Siggi wartete einen Moment, bis John sich wieder gefangen hatte.
»Haben Sie ein Bild von ihrer Frau?«
Er stand ohne ein Wort zu sagen auf, kramte in einer Schublade und zog ein Foto heraus. Es zeigte Cindy im Weimarer Tennisklub.
»Danke«, sagte Siggi, »ich werde dafür sorgen, dass eine Fahndung eingeleitet wird.«
»What does that mean, Fahndung?«
»Wir lassen sie von der Polizei suchen, in ganz Deutschland, und übers Radio«, erklärte Siggi geduldig.
»Through the radio station?« Erst jetzt schien John die Tragweite der Angelegenheit bewusst zu werden. Er ergab sich in sein Schicksal und sank wie ein Häufchen Elend im Sessel zusammen.
»Es tut mir leid, John«, sagte ich, »wir müssen dringend weiter, ich melde mich später wieder.« Ich schärfte John ein, unbedingt sein Mobiltelefon eingeschaltet zu lassen und gab Siggi ein Zeichen zu gehen. Wir rannten die Treppe hinunter und eilten am Kasseturm vorbei zum Rollplatz. Siggi setzte das Blaulicht aufs Wagendach und fuhr voraus, vom Graben aus rechts durch die Fußgängerzone und über den Goetheplatz direkt in die Schwanseestraße. Ich folgte ihm in meinem alten roten Volvo, dicht an seiner Stoßstange klebend.
Zehn Minuten später standen wir beide vor dem Haus Bechsteinstraße 5, direkt hinter dem Tennisklub. Einer der beiden Bodyguards des Ministerpräsidenten hatte sich vor dem Haus postiert. Er klingelte bei Clarissa Singer und holte sich über die Sprechanlage das Okay seines Kollegen. Dann winkte er uns herein. Drinnen, vor der Wohnungstür stand einer von Siggis Leuten. Er ließ uns herein. Clarissa Singer war eine schmale, blasse Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren und der markanten Nase ihres Vaters, insgesamt eine elegante, fast aristokratische Erscheinung. Sie war Anfang 30, verheiratet mit einem Elektroingenieur und Mutter von drei Kindern. Heute trug sie ein schlichtes, schwarzes Kleid und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Im Gegensatz zu ihrem Vater schien sie in keiner Weise beunruhigt zu sein.
»Ich bin Hauptkommissar Dorst«, stellt sich Siggi vor und gab ihr die Hand, »das ist Hendrik Wilmut.«
Ihre Finger waren kalt, aber sie strahlte menschliche Wärme aus.
»Mein Vater hat mir schon von Ihnen erzählt, und von Jens … ich kann das alles gar nicht glauben. Bitte, nehmen Sie Platz!«
Wir setzten uns auf eine helle Ledercouch. Der Ministerpräsident saß in einem großen Sessel und hörte aufmerksam zu, hielt sich ansonsten aber angenehm zurück.
»Frau Singer, ich muss Ihnen zunächst ein paar Fragen stellen …«, begann Siggi.
»Ja, ja, selbstverständlich!«
»War Jens Werner Gensing ihr Schüler?«
»Ja, drei Jahre lang in der Oberstufe des Karl-Liebknecht-Gymnasiums, er hat letztes Jahr sein Fachabitur gemacht.«
»Ist er das?« Er hielt ihr das Bild hin.
»Ja, das ist er, zweifelsfrei!«
»Und Sie unterrichten Deutsch?«
»Deutsch und Geschichte, um genau zu sein. Jens hatte ich aber nur in Deutsch.«
»Haben Sie mit seiner Klasse auch Werke von Goethe behandelt?«
»Aber natürlich, erstens ist das Teil des Curriculums und außerdem lese ich Goethe sehr gern.« Sie sah mich an.
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