Goetheruh
Immerhin müssen wir Felix mitteilen, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich ein Verbrecher ist!«
»Vielleicht wissen wir morgen mehr«, sagte Benno.
»Ja, vielleicht.«
»Gut, dann … kommst du mit – etwas essen?«
»Sei mir nicht böse, aber der Vormittag hat mich ziemlich geschlaucht, ich möchte nach Hause!«
»Na klar, ruh dich etwas aus. Und grüß Hanna!«
Ich kam nicht mehr dazu, Hanna zu grüßen. Ich schaffte es mit viel Mühe in die Hegelstraße. Dann fiel ich aufs Bett und schlief durch bis zum nächsten Morgen.
Voller Tatendrang startete ich in den Donnerstag, Ich fühlte mich ausgeschlafen und hatte gute Laune. Zunächst nahm ich zwei Tassen Espresso zu mir. Danach versuchte ich, Hanna anzurufen, aber sie war nicht erreichbar.
Auf dem Anrufbeantworter befanden sich zwei Nachrichten. Die erste kam von meinem netten Redakteur, der mich in süffisantem Ton an den vereinbarten Termin am Freitag um 18 Uhr erinnerte und anmerkte, dass er noch einen anderen Experten für Herder und sein Verhältnis zu Goethe an der Hand hätte. Kurzerhand löschte ich seine Nachricht. Die zweite war von Benno, er hatte heute Abend einen Gesprächstermin mit Felix vereinbart. Mir wurde fast übel bei dem Gedanken an dieses Gespräch. Das Frühstück fiel aus.
Zum Mittagessen traf ich mich mit Siggi, Hermann und dem Psychologen bei Thomas in der Brasserie am Rollplatz. Benno und Peter Gärtner tafelten mit Ministerpräsident Adler im Hotel Elephant. Hanna blieb unerreichbar. Langsam wuchs meine Unruhe.
Thomas begrüßte mich wie einen alten Kumpel, und sofort – ohne zu bestellen – hatte ich einen Espresso vor mir stehen.
»Wie weit seid ihr mit Oliver Held?«, fragte ich in Richtung Siggi.
»Tja«, meinte der Hauptkommissar und fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel, »es ist nicht einfach. Wir haben inzwischen auch in seinem Rucksack Heroinspuren entdeckt. In genau dem Rucksack, den er immer mit zur Arbeit ins Goethehaus nimmt. Er behauptet, das seien nur geringfügige Mengen für den Eigengebrauch gewesen, derzeit können wir ihm nicht das Gegenteil beweisen. Wir glauben, dass er jemanden schützen will – jemanden, der ihm den Stoff besorgt. Hermann hat inzwischen herausbekommen, dass seine Schwester in Frankfurt am Main wohnt und dort vor etwa einem Jahr wegen Drogenhandels angeklagt war. Sie wurde aber nicht verurteilt. Möglicherweise hat sie ihn als Drogenkurier benutzt. Wir haben Kontakt mit den Kollegen in Frankfurt aufgenommen.«
»Apropos Frankfurt«, meinte Kommissar Hermann. »Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass ein alter roter Golf mit dem Kennzeichen WE - FG 223 kurzzeitig als gestohlen gemeldet war.«
»Aha«, erwiderte ich, »einen anonymen Hinweis!?«
»Ja, der Informant wollte partout seinen Namen nicht nennen.«
»So, so …« Ich warf Siggi einen dankbaren Blick zu.
»Jedenfalls haben wir alle Verkehrsdelikte in Frankfurt nach diesem Kennzeichen durchsuchen lassen.«
»Aha, und?«
»Der Wagen wurde am Tag des Frankfurter Goethehaus-Diebstahls auf der Theodor-Heuss-Allee stadtauswärts wegen überhöhter Geschwindigkeit geblitzt. Der Wagen ist zugelassen auf Felix Gensing. Und hier ist das Foto des Fahrers!«
Ich betrachtete die Aufnahme ausgiebig. Dann reichte ich sie dem Psychologen. »Es gibt keinen Zweifel«, sagte ich mit trockener Stimme, »das ist Jens Werner Gensing!«
»Sicher?«, fragte Siggi.
»Ganz sicher!«
»Haben Sie Gensing denn schon mal gesehen?«, hakte der Psychologe nach.
Ja«, antwortete ich, »hier, an gleicher Stelle, genau an diesem Tisch.«
Mein Wunsch nach mehr Beweisen hatte sich schneller erfüllt als gedacht. Inzwischen waren insgesamt etwa 50 Leute mit dem Fall beschäftigt, in Weimar, Frankfurt, Jena, Berlin und Dresden. Und das hatte sich bezahlt gemacht.
»Ich frage mich nur«, überlegte Hermann, »warum Jens Gensing dazu extra so weit gefahren ist?«
»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Dorst.
»Na, er hat doch hier in Weimar all die schönen Besitztümer vor der Haustür, ob er nun viermal oder fünfmal ins Weimarer Goethehaus einsteigt, ist doch egal.«
»Das stimmt.«
»Ich glaube, er wollte ein Stück aus Goethes Kindheit besitzen«, erklärte ich.
Der Psychologe hob unschlüssig die Arme. »Kann sein. Vielleicht ist es auch nur ein Roter Hering.«
»Das halte ich auch für wahrscheinlich«, bestätigte Siggi.
Hermann sah skeptisch aus. »Möglich«, meinte er.
Ich war etwas verärgert.
Weitere Kostenlose Bücher