Goetheruh
Gensing hatte Nicole in sein Kellerversteck im Nebengebäude des ehemaligen Herder-Wohnhauses gezerrt. Er hatte sich seit Monaten hier unten häuslich eingerichtet. Wobei das Wort häuslich wohl übertrieben war, denn der karge Kellerraum war schmutzig und kalt. Besonders die Kälte hatte Cindy zugesetzt, trotz der draußen währenden Sommerhitze. Mehr als ein Tisch mit zwei Stühlen und eine alte Matratze waren in dem Raum nicht zu finden. Über Cindys Matratze hing das gestohlene Christiane-Bild. Die anderen geraubten Stücke bewahrte Jens in einem Nebenraum auf, den Cindy nie betreten durfte. Von Zeit zu Zeit, je nach Gemütszustand, holte er den einen oder anderen Gegenstand hervor und zeigte ihn Cindy, erklärte ihr genau seine Geschichte, wann und wo er ihn gekauft oder geschenkt bekommen habe, warum dieser ihm so wichtig sei und was er damit weiterhin zu tun gedachte. Die Venus wollte er seiner Mutter schenken, das Cornelia-Bild wollte er auf jeden Fall selbst behalten, die Kniep-Zeichnung dachte er Cindy als Entschädigung für ihre Gefangenschaft zuzuerkennen, ohne dabei zu erwähnen, wann diese zu Ende sein sollte, und Goethes Gartenhaus von der Rückseite erwog er sogar eines Tages seinem großen Gegner und Freund Hendrik Wilmut – ja so hatte er sich ausgedrückt – als eine Art sportlichen Fairnesspokal zu überreichen. Nur zu dem Sterbeschemel äußerte er sich nie. Hier unten mit all den Goethe-Gegenständen schien er ein fast normaler Mensch zu sein, hier fühlte er sich wohl. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein – das hatte er mehrmals zu Cindy gesagt. Und das war ein weiteres deutliches Zeichen seines Zustands: nur unter diesen unnatürlichen Umständen mit den gestohlenen Kunstgegenständen und mit Cindy in seiner Nähe konnte er ein Mensch sein.
Ich war sehr erleichtert, als ich später erfuhr, dass er Cindy nie angefasst oder belästigt hatte. Er wollte sie nur ansehen und um sich haben. Er unterhielt sie sogar recht kurzweilig und später erkannte sie, dass sie bei ihm viel über Goethe gelernt hatte. Irgendwie war es eine paradoxe Situation: Sie war gefangen in einem ungastlichen Kellerloch, erfuhr währenddessen aber viel Interessantes und hatte Zeit, darüber nachzudenken, es zu verarbeiten. Ich hatte befürchtet, dass sie über die sechs Tage ihrer Gefangenschaft hinweg vielleicht ein Gefühl der Solidarität mit dem Entführer entwickelt haben könnte, so etwas hatte es schon häufiger gegeben – das sogenannte Stockholm-Syndrom – doch ihre Psyche war stark genug, um das eine vom anderen zu trennen. Sie konnte sich frei im Raum bewegen, durfte in den angrenzenden Toilettenraum gehen, aber nicht hinaus auf den Flur. Sie war gezwungen, sich an einiges zu gewöhnen: Kakerlaken, keine Dusche, weder Handtuch noch Seife, ein paar Mäuse – wenigstens keine Ratten – schlafen ohne Bettdecke und Kissen sowie eintöniges Dosenessen aus dem Keller der Psychiatrie. Zum Glück hatte er ihr die Handtasche gelassen, mit zwei Päckchen Papiertaschentüchern, einem Bild von John und ein paar Kaugummis. Er beobachtete sie oft beim Schlafen. Nach zwei Tagen war sie sich sicher, dass er sie nicht anrühren würde, und schlief in seiner Gegenwart ein. Es kam ihr tatsächlich vor wie bei dem Gedicht ›Der Besuch‹ . Goethe hatte Christiane nicht geweckt, sondern ihr Äpfel und Blumen auf den Tisch gelegt. Für Cindy gab es lediglich Apfelmus aus der Dose und ein Gänseblümchen.
Jens war klar, dass er nach seiner Entdeckung von hier verschwinden musste. Das ging nur durch die Kanalisation und dabei konnte er nicht beide Frauen mitnehmen. Er entschied sich für Nicole. Das war sein zweiter Fehler. Nicole war ein anderes Kaliber als Cindy, sie war in solchen Sachen geschult worden und hatte keine Angst. Nach dem Ende der JWG-Aktion erkannte sie ihre Stärken und wechselte zum SEK, dem Erfurter Sondereinsatzkommando des Landes Thüringen. Aus dem Hubschrauber erkannte Siggi anhand des Funksignals, dass Nicole sich nicht mehr in dem Haus aufhielt und ließ den Keller durch das SEK stürmen. Cindy konnte endlich befreit werden. Wie der Psychologe mir später berichtete, sah sie sehr schlecht aus, war dennoch psychisch stabil. Als sie das Haus verließ, applaudierten alle Anwesenden, Polizisten, Nachbarn, Journalisten und Schaulustige. Ich freute mich sehr, dass später in der Zeitung keine Bilder erschienen, die Cindy in diesem erbärmlichen Zustand zeigten. Vielleicht hatte Sandro Scherer doch
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