Goetheruh
dass Cindy ahnte, mich mit ihrer Frage in eine unangenehme Situation gebracht zu haben. Deswegen nahm sie mir die Sache auch nie übel, selbst dann nicht, als sie später den wirklichen Grund meines angeblichen Magenproblems erfuhr.
Am nächsten Morgen begann ich mit der Planung der kommenden Tage. Meine Kollegen an der Uni hätten dazu wahrscheinlich bemerkt, dass man gar keine Planung brauche, wenn man später sowieso alles wieder über den Haufen wirft. Nun gut man kann es ja immerhin versuchen. Heute, am Freitag, hatte ich einige Behördengänge zu erledigen und wollte dann an meiner Buchrezension weiterarbeiten. Ich musste mich damit beeilen denn der Redakteur der ›Frankfurter Presse‹ hatte eine erneute Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, die diesmal etwas drängender klang. Später wollte ich kurz bei Onkel Leo und Tante Gesa in der Tiefurter Allee vorbeischauen. Am Samstag mit Hanna treffen, abends dann nach Frankfurt fahren, um mich am Sonntag auf die Vorlesungen vorzubereiten. Jeder Student hat ein Recht auf eine einwandfrei gehaltene Lehrveranstaltung. Am folgenden Donnerstag plante ich, wieder nach Weimar zurückzukehren.
Die Behörden nervten zwar, dennoch konnte ich verhindern, dass ein wichtiger Antrag vom schwarzen Loch der Niemandszuständigkeit verschluckt wurde. Gegen Mittag kam dann das Schnitzel von gestern in die Pfanne, wurde mit Käse überbacken und mit Salat garniert. Zum Kartoffelschälen hatte ich keine Lust, deshalb gab es nur Brot dazu. Zum Nachtisch nahm ich einen Vitamin-C-Schub, bestehend aus einem Apfel, einer Schüssel Heidelbeeren und einer großen Portion Zitroneneis. Dabei fiel mir Mutter Hedda in Offenbach ein (›Junge, du ernährst dich zu ungesund!‹), und ich nahm mir die Zeit für einen kurzen Anruf, über den sie sich sehr freute.
Die Buchrezension lief schlecht. Eine Gedankenblockade verhinderte jede Art von Kreativität, erlaubte höchstens eine mechanische Niederschrift profanster Gedanken, immer wieder unterbrochen von insgesamt fünf Tassen Espresso. Da ich nur sechs Tassen besaß, eine davon einen Riss hatte und mir der Sinn nicht nach Spülen stand, war nach der fünften Tasse Schluss. Damit kam leider auch die Arbeit an dem verhassten Werk von Hans-Jürgen Dingsda zum Erliegen.
Endlich war es 17 Uhr, und ich durfte in die Tiefurter Allee aufbrechen. Der Himmel hatte aufgeklart. Die Regenwolken waren verschwunden, die Temperatur sehr angenehm, etwa 23 Grad, ein leichter Wind blies und ein paar dünne Zirruswolken zogen über den Himmel. Ich beschloss zu laufen, nahm den Weg über die Steubenstraße und die Ackerwand, bog hinter der Anna-Amalia-Bibliothek in den Ilmpark ein, ging über die Sternbrücke und an der Altenburg vorbei. Etwa eine halbe Stunde später klingelte ich bei Onkel und Tante.
Onkel Leo und Tante Gesa waren zwei Menschen, denen ich großen Respekt entgegenbrachte. Leonhard Kessler war lange Zeit Oberbürgermeister von Weimar gewesen, bereits zu DDR-Zeiten. Zunächst hatten die Parteifunktionäre ihn zu dem Amt gezwungen, doch als er sich damit abgefunden hatte, machte er das Beste aus der Situation – vor allem zum Nutzen der Bürger. Nach der Wende wurde er wiedergewählt, was ihn zu Recht mit Stolz erfüllte. Tante Gesa pflegte das in ihrer typisch lieben, aber bestimmenden Art zu kommentieren: ›Siehst du, damals war doch nicht alles so schlecht!‹ Und ich erwiderte dann stets: ›Das stimmt, Tante Gesa, aber das, was schlecht war, sollten wir nicht vergessen!‹
Drei Jahre später gab Onkel Leo 70-jährig aus gesundheitlichen Gründen sein Amt auf. Immerhin hatte er viel auf den Weg gebracht, dass sein Nachfolger Peter Gärtner eine gute Ausgangsposition hatte. Gärtner war immer noch amtierendes Stadtoberhaupt und bat seinen Freund Leo manches Mal um Rat.
Benno, Sophie und Bernstedt waren bereits da. Sie saßen auf der Terrasse. Das Haus war seit über 100 Jahren im Familienbesitz, und Onkel Leo hatte es gut in Schuss gehalten, auch während der DDR-Zeit. Gut, er war lange Jahre Oberbürgermeister gewesen und hatte dadurch sicher einige Vorteile, aber trotzdem steckte viel Eigenarbeit darin. Das Haus war groß, besaß gut und gerne um die 180 Quadratmeter Wohnfläche. Das Walmdach war mit Bieberschwänzen gedeckt, die bereits einen leichten grünen Moosbelag erkennen ließen. Der kleine Vorgarten auf der Nordseite war akkurat gepflegt, ein hohes Pampasgras bestimmte das Bild, flankiert von Rhododendren,
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