Goetheruh
zog einen zweiten Pfeil zum Kreis und versah ihn mit einer Flasche und einer Spritze.
»Wenn wir dieses dramatische Theaterstück in die heutige Zeit versetzen, können Alkohol oder Drogen diesen Vorgang der Desintegration verstärken, wenn sich der Konsum über einen längeren Zeitraum erstreckt«
Benno betrachtete die Zeichnung eine Weile. »Du meinst also, das bewusste Ereignis könnte der Diebstahl aus der Gemeindekasse gewesen sein – oder zumindest der Verdacht – und der Beschleuniger Alkohol?«
»Es wäre denkbar. Das Ganze ist aber nur das amateurhafte Modell eines …«
»… eines Literaturbesessenen«, ergänzte Benno.
Ich war unsicher, ob ich das als Kompliment verstehen sollte oder nicht. »Jedenfalls heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich so gewesen sein muss. Es steht bisher nicht mal fest, ob Oliver Held ein wasserdichtes Alibi hat.«
»Wo stehen wir denn in diesem Bild?«, fragte Bernstedt.
»Wir befinden uns irgendwo hier außen und überlegen, ob und vor allem wie wir eingreifen sollen.« Ich malte viele kleine Strichmännchen auf das Blatt.
Bernstedt nahm mir den Stift aus der Hand und fügte zwei besonders große Strichmännchen hinzu. »Diese hier sind aber gewichtiger, weil sie aktiv sind und sehr bedrohlich für den Täter!« Er schrieb die Namen Siegfried Dorst und Hendrik Wilmut neben die beiden Strichmännchen.
»Na, das hoffe ich«, antwortete ich nachdenklich.
»Das klingt alles recht plausibel«, brummte Benno. »Wirf die Zeichnung lieber weg, sonst gelangt sie vielleicht in falsche Hände.«
Bernstedt ging ins Haus, um mein Kunstwerk zu entsorgen. Für Benno war es Zeit, das Fleisch auf den Grill zu legen.
Am Samstag Abend verließ ich Weimar über die Berkaer Straße und nahm den gleichen Weg zurück, den ich am Montag gekommen war. Die Autobahn war einigermaßen leer und ich war froh, dass es Samstag war und nicht Sonntagabend, wenn sich die Lawine der Thüringer Wochenendpendler nach Hessen in Bewegung setzte. Bei Alsfeld musste ich durch die berühmte Baustelle, die sich dort schon mehrere Jahre langsam voranschob, Kilometer für Kilometer. Es wurde etwas zähflüssig, doch ich kam nie zum Stillstand. Die Raststätte Homberg/Ohm nutzte ich für einen kleinen Spaziergang, aber nach ein paar Minuten wurde ich unruhig und fuhr weiter. Ich wollte nach Hause. Es dämmerte bereits, als ich von der A5 am Westhafen Frankfurt abbog und den Weg Richtung Innenstadt nahm. Zuerst fuhr ich auf der Frankfurter Seite des Mainufers entlang und überquerte dann den Main auf der ›Alten Brücke‹ nach Sachsenhausen. Ich war froh, wegen einer roten Ampel auf der Brücke halten zu müssen. Das gab mir die Gelegenheit, einen Blick nach rechts über den Main auf die Innenstadt werfen zu können. Vielen ist die Frankfurter Skyline nicht geheuer, ein Symbol für die Macht des Geldes und deren teils abstoßende Folgen. Ich verstand diese Leute zwar, doch meine Gefühle waren ganz anderer Art. Für mich bedeutete dieses Bild Vitalität. Dank der untergehenden Sonne hinter den Wolken strahlte es sogar eine gewisse Romantik aus. Aber diese Interpretation gelang wahrscheinlich nur demjenigen, der in Frankfurt lebte, Frankfurt wirklich kannte, die Vorteile zu schätzen und die Nachteile zu ertragen gelernt hatte.
Zehn Minuten später stand ich vor meiner Tür in der Textorstraße. Ich bewohnte eine Dreizimmer-Altbauwohnung mit hohen Decken und sehr schönen alten Holztüren. Ich hatte mich hier immer sehr wohlgefühlt, doch im Moment kam ich mir seltsam verloren vor. Woran mochte das liegen?
Während ich dabei war die Post und die Zeitungen durchzublättern, dachte ich darüber nach. Und über Hanna, Frankfurt und Weimar. Die Zeitung lag vor mir, doch ich blickte durch sie hindurch, die Buchstaben verschwammen und waren nur noch schemenhafte Zeichen.
Plötzlich schnellte ich aus dem Stuhl hoch. Wie gefesselt hing mein Blick an einer kleinen Meldung im Frankfurter Lokalteil: ›Gestohlenes Bild aus dem Frankfurter Goethemuseum bleibt verschwunden!‹
*
Er dachte nicht nur oft über seine Geburt nach, sondern ebenso über seine Kindheit. An viele Dinge konnte er sich nicht mehr erinnern, auch wenn ihm die Mutter dicke Fotoalben zeigte. Im Grunde wusste er mehr über die Vergangenheit Weimars als über seine eigene. Und der Vater konnte überhaupt nichts dazu beitragen, er sprach kaum mit seinem Sohn. Offensichtlich hatte er genug mit sich selbst zu tun. Nur sein
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