Goetheruh
zwischen Vater und Sohn herauszunehmen. »Am besten, ihr erzählt erst mal, woher ihr Oliver Held kennt, und was er für ein Mensch ist.«
Onkel Leo putzte seine große Hornbrille. »Er hat kurz vor der Wende eine Ausbildung beim Rat der Stadt Weimar angefangen und ich habe ihn unterstützt, das ist alles.« Er machte den Eindruck, als wollte er weiterreden, doch er zögerte.
»Was heißt in diesem Fall unterstützt ?«, fragte ich.
Alle sahen Onkel Leo an.
»Na ja …, ich fand, er war ein talentierter junger Mann, mit Ambitionen, mit Ehrgeiz. Er kam aus sehr schwierigen Familienverhältnissen, seine Mutter litt an Krebs und sein Vater war ein Trinker, so jemanden muss man doch unterstützen, oder nicht?«
Ich erkannte, dass es ihm sehr ernst war. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, das Ganze unter vier Augen zu besprechen, doch jetzt mussten die Karten auf den Tisch.
»Und wie ist Oliver dann im Goethemuseum gelandet?«
Onkel Leo hob die Hände. »Tja, eines Tages wurde er beschuldigt, Geld aus der Gemeindekasse gestohlen zu haben.«
Bernstedt nickte. »Es konnte ihm aber nie nachgewiesen werden. Trotzdem wollte ihn Blume nicht mehr in der Stadtverwaltung haben und so hat Leo ihm die Stelle im Museum verschafft, damit er wenigstens seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.«
»Und keiner hat sich die Mühe gemacht, seine Schuld oder Unschuld zu beweisen?«, fragte Sophie.
»Nein«, Tante Gesa klang traurig. »Auch Leo konnte nichts mehr ausrichten.«
Ich musste die Frage stellen. »Was ist denn deine persönliche Meinung, Onkel Leo, hältst du ihn für schuldig?«
Er stand auf und ging langsam die Treppe zum Garten hinunter.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er.
Wir ließen ihn allein. Benno kümmerte sich weiter um den Grill und Sophie half Tante Gesa beim Salat.
Ich setzte mich zu Bernstedt.
»Ich habe mit Leo damals viel über den Fall gesprochen«, erzählte er, »ich konnte Oliver am Ende aber auch nicht helfen. Blume war zu dominant und Gärtner zu schwach. Außerdem hat Oliver sich ungeschickt verhalten, hat nichts getan, um sich zu rechtfertigen, irgendwie … schart er seine Fehler um sich wie Freunde. Man sagt, er hätte danach zu trinken angefangen.«
»Hast du ihn in letzter Zeit mal gesprochen?«, fragte ich.
»Es war im Frühjahr, ich glaube im März. Da habe ich mit einem Verwandten das Goethehaus besucht. Oliver war nicht sehr gesprächig.«
»Hm. Kannst du dir vorstellen, warum? War er nur zurückhaltend oder wirkte er eher abwesend?«
»Abwesend – ja, das könnte man sagen.«
»Wie hat er sich sonst verhalten? Hat er dir bei dem Gespräch in die Augen gesehen, oder ist er deinem Blick ausgewichen?«
Bernstedt musterte mich erstaunt. »Warum fragst du all diese Dinge?«
»Sag ich dir später!«
»Gut, wenn ich’s recht bedenke, hat er mich kaum angesehen. Und seine Augen waren irgendwie …«
»Unruhig, flatterhaft?«
»Ja genau!«
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Ich fragte ihn, ob er nicht mal wieder zum Literaturkreis kommen wolle.«
»Oliver Held war Mitglied im Literaturkreis?«
»Ja, ganz am Anfang. Nachdem er des Diebstahls beschuldigt wurde, hat er sich nicht mehr blicken lassen.«
»Und was hat er auf deine Nachfrage gesagt?«
»Gar nichts, er hat von etwas ganz anderem gesprochen, fing plötzlich an, von seiner Schulzeit zu erzählen.«
Mein Bild von Oliver Held nahm allmählich Gestalt an. »Benno, hol mir doch bitte mal ein großes Blatt Papier«, bat ich. Ich spannte den großen Sonnenschirm auf, und Benno erschien mit einem Bogen Papier, zwei Filzstiften und drei Flaschen Ehringsdorfer. Wir stießen an, und ich begann zu zeichnen.
»Ich versuche, das Ganze mal anders zu betrachten. Nehmen wir an, der Täter sei die tragische Figur eines Theaterstücks. Wie … Götz von Berlichingen oder Graf Egmont.«
Ein Strichmännchen erschien auf dem leeren Blatt.
»Auf irgendeine Weise ist er von der restlichen Welt abgeschnitten.« Ich zog einen Kreis um das Strichmännchen. »Die Ursache dafür«, ich malte einen dicken Pfeil, der auf dem Kreis endete, »kann ein bestimmtes Erlebnis, ein Unfall, ein Trauma oder etwas Ähnliches sein, das sich im vorigen Akt des Theaterstücks abgespielt hat, den wir leider verpasst haben. Jedenfalls führt es zu einer langsamen, schleichenden Veränderung seiner Persönlichkeit.« Ich fügte dem Pfeil ein Blitzsymbol und zwei stilisierte Gesichter hinzu, die eine gespaltene Persönlichkeit darstellen sollten. Ich
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