Goetheruh
Azaleen und Bergenien. Die Fensterläden aus Holz waren frisch gestrichen, in einem satten Dunkelgrün. Innen gab es ein wunderschönes altes Treppenhaus aus Eichenholz, das imposant den Eingangsbereich dominierte und eine wirklich sehenswerte Bibliothek. Die große Terrasse war mit Granitplatten ausgelegt. Tante Gesa hatte die Gartenmöbel aus Teakholz frisch gereinigt und gewachst. Seitlich der Terrasse standen zwei Rankgitter, eines mit Glyzinien, eines mit Rosen. Beide Blumen waren bereits verblüht, doch ich konnte mich genau an den Anblick im Mai und Juni erinnern, wenn sich diese einzigartige Blütenpracht entfaltete. Das Ganze mutete ein wenig kleinbürgerlich an, doch es schuf eine angenehme, warme Atmosphäre. Ich liebte das Haus.
Onkel Leo brachte mir sofort eine Flasche Bier, die ich dankend annahm. Er war ein toller Mann, sehr gebildet und erfahren, und ich konnte mich bestens mit ihm unterhalten – über alle Themen dieser Welt. Er war bereits 75 Jahre alt, hatte streng zurückgekämmtes weißes Haar und trug eine große Hornbrille. Er hatte einen lädierten linken Fuß, aufgrund eines schweren Arbeitsunfalls mit einem Mähdrescher. Seitdem humpelte er. Ich war damals erst drei Jahre alt und kann mich gar nicht mehr daran erinnern, ihn nicht humpeln gesehen zu haben. Seit einigen Jahren hatte er zudem große Probleme mit einer Herzerkrankung, die ihn schließlich dazu bewogen hatte, das Amt des Oberbürgermeisters aufzugeben.
»Prost Hendrik, mein Junge«, rief Onkel Leo und wir stießen an. Er nannte mich oft ›mein Junge‹ und mir gefiel es. Mein Vater war schon lange tot und ich hatte seinen Bruder in gewisser Weise als meinen Ersatz-Vater akzeptiert.
Tante Gesa fragte, ob ich ein Stück Kuchen essen wolle, aber ich lehnte dankend ab. Erstens passte Kuchen nicht zum Bier und zweitens sah ich Benno bereits mit dem Grillrost hantieren. Tante Gesa ist der klassische Typ der lieben Oma. Wenn sie mich lange Zeit nicht gesehen hat, umarmt sie mich sofort, auch wenn das bei meinen 1,93 Meter und ihren 1,60 Meter Körpergröße nicht leicht ist. Manchmal nimmt sie meine Hand und streichelt sie zärtlich, während sie mir Wichtiges erzählt. Die einzige Meinungsverschiedenheit, die wir beide kontinuierlich und liebevoll pflegen, beruht auf ihrem Früher-war-alles-besser-Komplex. Diese Art von Bemerkungen ärgert mich sehr. Und sie weiß das. Trotzdem hört sie nicht auf, weiterhin dergleichen in die Welt zu setzen: ›Früher war’s doch nicht so schlecht!‹ oder ›So toll ist heutzutage auch nicht alles‹. Dieses früher bezieht sich heute auf die DDR-Zeit, damals wiederum hat es sich auf die Zeit vor der sozialistischen Enteignung ihres elterlichen Bauernhofes in Ungarn bezogen. Meist kann ich ihr diese Eigenart schnell verzeihen, weil sie ansonsten ein sehr liebenswerter Mensch ist, und weil ältere Leute wohl generell dazu neigen, ihre jüngeren Jahre zu glorifizieren. Vielleicht wird es mir auch einmal so ergehen.
Benno setzte sich zu uns. »So Leute«, begann er unvermittelt, »jetzt lasst uns mal über Oliver Held und die Diebstähle im Goethehaus sprechen!«
Überrascht sah ich ihn an.
»Keine Sorge«, beruhigte er mich, »wir sind hier unter uns. Alle wissen Bescheid, auch Bernstedt, er kennt Oliver, ebenso wie mein Vater.«
»Ihr kennt Oliver Held?«
Ich blickte von einem zum anderen. Bernstedt nickte.
»Ja, das stimmt«, antwortete Onkel Leo, »und – was gibt es da zu bereden?«
»Oliver Held ist gestern Abend verhaftet worden.«
Ich wusste nicht, ob ich betroffen sein sollte oder zufrieden.
»Verhaftet?«, fragte Onkel Leo ungläubig.
»Ja, gestern. Er steht im Verdacht, die verschwundenen Gegenstände aus dem Goethehaus gestohlen zu haben. Und darüber müssen wir reden!«
»Was heißt denn: ›Darüber müssen wir reden!‹?« Onkel Leo klang verärgert. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich Oliver zufällig kenne.«
»Nun ja, immerhin bedeutet das, dass mein Vater in Verbindung mit einem Verdächtigen steht.«
»Erstens stehe ich nicht mit ihm in Verbindung, ich kenne ihn lediglich von früher. Außerdem ist das doch eher mein Problem als deins.«
»Du stehst aber nicht so in der Öffentlichkeit wie ich. Nicht mehr.«
»Moment mal«, unterbrach Bernstedt. Sein Schnauzbart wackelte. »Ich finde, wir sollten uns erst mal darüber unterhalten, ob es Oliver überhaupt gewesen sein könnte.«
»Das stimmt«, pflichtete ich bei, bemüht, Bernstedt zu helfen, die Schärfe
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