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Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Koestering
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Großvater, der hatte sich die Mühe gemacht, mit ihm zu reden, ihm aus seinen frühen Kindertagen zu erzählen. Hatten ältere Menschen ein besseres Erinnerungsvermögen? Er wusste es nicht.
    Sein Großvater hatte ihm viel von der DDR-Zeit berichtet, als er ihn oft mit in die LPG genommen hatte. Stolz sprach er von Hunderten von Kühen in einem einzigen riesigen Stall, den man nur mit spezieller Kleidung betreten durfte, aus Angst vor Keimen. Er selbst war damals noch jung gewesen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt und hatte das alles bewundert. Heute fragte er sich, warum man sich damals mehr Sorgen um die Tiere gemacht hatte als um die Menschen.
    Auch hatte ihm sein Großvater viel vorgelesen. ›Lesen bildet‹, hatte er immer gesagt. Damals, als kleiner Junge, hatte er die Bedeutung dieser Worte natürlich nicht ermessen können. Jedenfalls gefielen ihm die Geschichten, und oft erdachte er sich eine Fortsetzung, allein im Bett, auch wenn die Geschichte schon längst zu Ende war. Viel später erfuhr er, dass Goethes Mutter ihren beiden Kindern auch regelmäßig Gutenachtgeschichten vorgelesen hatte. Manchmal, kurz vor dem Ende der Geschichte, behauptete sie plötzlich, der Rest sei ihr entfallen und die beiden sollten sich bis zum nächsten Tag selbst ein Ende ausdenken oder erträumen. Er hatte einen Artikel gelesen, in dem ein Literaturwissenschaftler dies als ›Anstiftung zum literarischen Denken‹ bezeichnete. Die Formulierung gefiel ihm und für ihn stand fest, dass sein Großvater nichts anderes getan hatte.
    Sein Großvater war auch ein Kunstkenner gewesen. Er hatte Bilder gesammelt, zum Teil recht seltsame Gemälde mit nackten Frauen und abgeschnittenen Köpfen. Sie hingen in einem versteckten Raum in der Scheune und kaum einer bekam sie zu Gesicht. Auch er mochte diese Bilder. Als Junge war er einer der Wenigen gewesen, die den Raum mit den Kunstwerken betreten durften. Später fand er eine Fotografie eines dieser Bilder. Auf die Rückseite hatte sein Großvater geschrieben: ›Die Kunst ist die Hoffnung der Verlorenen.‹
    Eine bildhafte Erinnerung, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben war, zeigte seinen Großvater, der mit ihm Fußball spielte, auf einer Wiese hinter dem Haus. Unweit davon zog sich träge ein kleiner Fluss durch die Wiesenaue. Die Mutter rief vom Haus: ›Vorsicht, Junge, fall nicht in den Fluss!‹. Und das rief sie bestimmt zehnmal am Tag. Ab und zu wünschte er sich, im Traum in den Fluss zu fallen. Er wollte einmal erleben, wie es wäre, wenn das Wasser plötzlich über einem zusammenschlug und man glücklich und zufrieden unterging. Aber es war ihm noch nie gelungen, den Traum zu Ende zu träumen.
    Er war gerade im ersten Schuljahr, als sein Großvater plötzlich verschwand. Als er mittags aus der Schule gekommen war, war sein Opa nicht mehr da gewesen. Er wusste bis heute nicht, wo er sich aufgehalten hatte, alle mieden das Thema, keiner wollte mit ihm darüber sprechen, am wenigsten seine Mutter. Er wusste nur, dass sein Großvater Jahre später zurückkehrte, wie ein Geist hatte er eines Tages vor der Tür gestanden. Aber er war nicht mehr der Großvater gewesen, den er kannte. Er war dünn geworden, mit tiefen Falten im Gesicht, wirkte traurig und zurückgezogen. Den ganzen Tag über saß er im Wohnzimmer in seinem Sessel und regte sich nicht. Nicht einmal zum Mittagessen stand er auf, die Mutter brachte ihm den Teller an seinen Sessel. Nur abends in der Dämmerung war es etwas besser, dann erzählte er seinem Enkel aus seiner Kindheit. Und ein einziges Mal spielten sie wieder Fußball, im Wohnzimmer, der große Tisch diente als Tor. Er hatte sich glücklich gefühlt.
    Einen Tag später war der Sessel leer gewesen. Seine Mutter hatte verweint ausgesehen. Sie hatte versucht, ihm zu erklären, dass Opa es nicht mehr ausgehalten hätte, nach all den schrecklichen Erlebnissen, und sich das Leben genommen habe. Er solle seinem Großvater deswegen aber nicht böse sein, so etwas sei wie eine Krankheit, da könne man nichts machen.
    Ja, er war tatsächlich tot. Er hatte sich in den Fluss gestürzt, das Wasser war über ihm zusammengeschlagen und er war zufrieden untergegangen.

     
    *
    Als der Wecker klingelte, war es halb sieben am Montagmorgen. Trotz der überraschenden Nachricht über den Diebstahl im Frankfurter Goethehaus hatte ich gut geschlafen und freute mich auf die Vorlesungen. Nachdem ich geduscht und angezogen war, packte ich meine übliche Arbeitsausstattung

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