Goetheruh
für seinen umsichtigen Text, der Alternativen für die Touristen anbot, und die Pressemitteilung wurde einstimmig verabschiedet.
»Hendrik, gibt’s etwas Neues von der Analyse der Goethe-Zitate?«
Ich war vorbereitet und konnte sofort reagieren. »Hier finden Sie die Liste aller bisher geraubten Exponate …« Ich verteilte eine Kopie der Liste an jeden der Kollegen. Sie enthielt eine genaue Beschreibung der gestohlenen Gegenstände, inklusive deren Entstehungsdatum und den dazugehörigen Goethe-Text, den der Dieb uns hatte zukommen lassen.
»Die ersten drei Exponate – das Palermo-Bild, das Gartenhaus-Bild und den Fußschemel – kennen Sie bereits, auch die dazugehörigen Texte. Die anderen beiden möchte ich nochmals vorstellen. Bei dem vierten Diebstahl wurde aus dem Dichterzimmer im Frankfurter Goethehaus ein von Goethe selbst handgezeichnetes Porträt seiner Schwester Cornelia entwendet. Es entstand zwischen 1771 und 1773, Ausführung in schwarzer Kreide auf grauem Papier. Das vom Täter zugeordnete Gedicht lautet:
An Luna
Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht;
Das fünfte Exponat ist eine Italienische Venus, eine Bronzestatuette, wie von Herrn Wenzel bereits beschrieben. Es handelt sich um ein Originalstück aus Italien, entwendet aus dem Sammlungsschrank im Großen Sammlungszimmer. Hier das zugehörige Gedicht – wenn man das so nennen will:
Und Hintendrein kommen wir bey Nacht
Und vögeln sie daß alles kracht!
Der Diebstahl des Cornelia-Bilds zeigt einen klaren Bezug zu Goethes Schwester, die er sehr liebte. Mit ›Schwester‹ ist im Gedicht der Mond gemeint, mit dem ›ersten Licht‹ die Sonne. Viele Literaturwissenschaftler interpretieren dies so, dass Goethe selbst sich mit der Sonne verglich. Die Zeile ›Bild der Zärtlichkeit in Trauer‹ deutet höchstwahrscheinlich auf das traurige Leben seiner Schwester und ihren frühen Tod hin. Ich bin der Meinung, dass der Täter uns hier erneut seine Macht demonstrieren will, indem er uns zeigt, dass er auch außerhalb Weimars agieren kann. Und der Trend zu sehr persönlichen Gegenständen hält an, wobei mir augenblicklich nicht klar ist, was das zu bedeuten hat.« Ich machte eine kurze Pause und holte tief Luft.
»Und was hat dieser komische Erotik-Vers zu bedeuten?«, fragte Benno.
»Der stammt tatsächlich auch von Goethe. Wie bereits erwähnt, gehört er zu einem Theaterstück, das – zum Glück – nie veröffentlicht wurde. Mit der Tatsache, dass der Täter dies weiß, zeigt er uns erneut seine Überlegenheit und macht sich meines Erachtens damit über uns lustig.«
Die Gesichter in der Runde verdüsterten sich.
»Die derbe Ausdrucksweise in Hanswursts Hochzeit hat wahrscheinlich mit Goethes Mutter zu tun, die selbst ähnlich vulgäre Ausdrücke benutzte. Und den Einfluss seiner Mutter auf Goethe sollte man nicht unterschätzen.«
»Danke, Hendrik«, meinte Benno ohne weiteren Kommentar.
Die Tatsache, dass keiner der Anwesenden Kritik an meinen Ausführungen äußerte, zeigte mir, dass ich als Experte akzeptiert und geschätzt wurde. Ich gehörte wie selbstverständlich dazu.
Siggi berichtete detailliert von Oliver Helds Vernehmung. Er blieb sehr sachlich und neutral, dennoch war klar, dass Oliver Held keine guten Karten hatte. Sein Alibi war bis jetzt nicht geklärt. Eine Verbindung zu irgendwelchen Drogendealern konnte ihm bisher aber nicht nachgewiesen werden. Onkel Leo sah mich fragend an. Ich hob die Schultern. Ich konnte nichts tun.
Es war heiß und Onkel Leo schlug vor, eine Pause von zehn Minuten einzulegen. Sein Vorschlag wurde sofort angenommen. Onkel Leo zog mich ans Fenster. Wir schauten hinaus auf den Weimarhallenpark und er begann, mich nach den Ermittlungen gegen Oliver Held auszufragen. Er sprach leise, sodass die anderen ihn nicht hören konnten, und ich hatte den Eindruck, es war ihm sehr wichtig. Bevor ich ihm Auskunft gab, musste ich meinerseits eine Frage stellen, die mir schon lange unter den Nägeln brannte. »Onkel Leo, eins würde mich interessieren, und ich hoffe auf eine ehrliche Antwort. Warum engagierst du dich eigentlich so für Oliver Held?«
Er ließ seinen Blick hinüber zum Schwanseebad schweifen und seufzte. »Ich dachte mir, dass du das irgendwann fragen würdest. Und ich will dir ehrlich antworten: Ich bilde mir ein, eine gute Menschenkenntnis zu besitzen. Zu DDR-Zeiten war das lebenswichtig. Bei Oliver
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