Götter der Lust
Wenn sie ihm das Wort nannte, würde er fragen, warum sie dessen Bedeutung wissen wollte. «Ich kann selbst lesen», erinnerte sie ihn.
«Das glaube ich gern», erwiderte er ruhig, «denn sonst würdet Ihr nicht die Übersetzung für ein Wort suchen. Ich habe in der Schule jahrelang Latein gelernt. Das ist zwar lange her, aber ich bin noch nicht vollkommen eingerostet.»
«Myles hat ebenfalls in der Schule Latein gelernt, aber er kannte das Wort trotzdem nicht.»
Der Herzog zeigte auf die Regalbretter in ihrer unmittelbaren Nähe. «Das Buch steht im zweiten Regal, drittes Bord von unten.»
Abby dankte ihm mit einem kurzen Knicks, zog das Buch heraus und legte es auf eine Sessellehne. Sie blätterte, bis sie das Wort gefunden hatte.
«Hypogaeum. Keller.» Die Stimme des Herzogs an ihrem Ohr ließ sie hochschrecken. Sie schlug rasch das Wörterbuch zu und wandte sich zu ihm um. Er trat einen Schritt zurück. «Ein ungewöhnliches Wort, das Ihr da gesucht habt.»
«Vielleicht habe ich das Wort ja falsch verstanden.» Abby kaute an der Unterlippe. «Es ergibt nämlich keinen Sinn.»
«Ich denke, das Wort ist ziemlich eindeutig.» Die Lippen des Herzogs zuckten. «Liegt es vielleicht am Kontext des Satzes?»
«Ja, genau, das wird es wohl sein», räumte Abby hastig ein. «Ich muss die Stelle noch einmal heraussuchen und dann wiederkommen.» Sie drehte sich um, nahm das schwere Wörterbuch und gab es ihm zurück. «Danke für Eure Hilfe.»
«Keine Ursache», schnurrte der Herzog und trat ganz dicht an sie heran. «Euch helfe ich immer gerne.»
Abby hatte sich noch nie vor einem Kampf gedrückt, doch in dieser Zeit, in der sie so wenig zu sagen und so viele unbekannte Gesetze zu beachten hatte, wusste sie nicht recht, wie weit sie beim Herzog gehen konnte, ohne sich in die Bredouille zu bringen. Dem lüsternen Grinsen in seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er eine andere Bezahlung im Sinn.
Sie ergriff die Flucht.
Abby rannte nach draußen. Das ergab alles keinen Sinn. Warum sollte auf einer Treppenstufe das Wort
Keller
stehen?
«Mrs. Hardy!», rief eine weibliche Stimme. Die Herzogin kam zu ihr geeilt, einen Sonnenschirm aus Papier über den Kopf haltend. «Du hast vergessen, eine Haube aufzusetzen», sagte sie, als sie Abby erreichte. Sie hielt den Sonnenschirm über sie beide. «Aber ich nehme an, du wirst deine wohl ebenfalls bei dem Unfall verloren haben.»
Abby lächelte. Sie standen im Schatten des Hauses. «Nein, ich habe eine Haube, aber ich habe sie oben vergessen. Ich … äh … bin nach einer Begegnung mit deinem Mann noch ein wenig durcheinander.»
«Ja, bei ihm geht das allen so», räumte Lucy ein. «Aber im Grunde seines Wesens ist er warmherzig und sanftmütig – auch wenn ich seine Geheimnisse vielleicht besser nicht verraten sollte. Was ist denn passiert?»
«Ich war auf der Suche nach einem Wörterbuch.»
«Und er hat sich deswegen über dich lustig gemacht», fuhr Lucy fort, während sie Abby über den Kiesweg zu einem altmodischen Irrgarten führte.
«Ja, genau!» Abby drehte sich zu ihr um. «Woher weißt du das?»
Lucys Mundwinkel gingen nach oben. «Ich bin mit ihm verheiratet, meine Liebe.»
Abby errötete. «Ja, natürlich. Tut mir leid. Ich hätte nicht so überrascht sein dürfen.»
Lucy hakte sich bei Abby unter. «Ich weiß, dass mein Mann euch nicht erwartet hat, aber ich habe ihm gestern Abend erklärt, dass ich mich über euer Kommen freue.»
«Und?» Legte der Herzog überhaupt Wert auf die Gefühle seiner Frau?
«Er freut sich ebenfalls. Obwohl ich vermute, dass ihr nichtlänger zu bleiben gedenkt, als bis dein Mann seine Angelegenheiten mit meinem Stiefsohn geregelt hat.»
«Ich habe keine Ahnung, worum es dabei geht, aber es kommt mir so vor, als könnte es noch einige Zeit in Anspruch nehmen», erklärte Abby vorsichtshalber, da sie nicht wusste, wann sie die Statue finden oder der junge Viscount von Myles’ Geschichten die Nase voll haben würde.
«Wie unangenehm, dass das ausgerechnet mitten in eure Flitterwochen fällt. Ich … äh …» Lucy errötete. «Ich habe euch gestern Nacht gehört.»
Nun errötete auch Abby. «Wie es scheint, hat der ganze Haushalt uns gehört. Tut mir leid. Bislang waren wir es gewohnt, allein zu sein. Ich werde Myles bitten, heute Nacht ein wenig rücksichtsvoller zu sein.»
Lucy lachte. «Willst du das wirklich?»
Abby grinste. «Eigentlich nicht. Die letzte Nacht war … das ist dir jetzt
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