Götter der Nacht
Irgendwo über ihnen tobte eine Feuersbrunst. Dort, wo Léti wartete. Die Hitze schlug ihnen bis in den Saal entgegen.
Ratlos sah er sich um. Hulsidor beschloss, nicht länger auf ihn zu warten, und lief hastig die Treppe hinauf. Yan konnte ihn verstehen. Auch er wollte so schnell wie möglich
nach oben, und sei es nur, um Léti beizustehen. Doch zuerst musste er die anderen warnen.
Zu ihnen nach unten zu laufen, war keine gute Idee. Er würde nur Zeit verlieren und wäre als Einzelner ein gefundenes Fressen für die Geister. Noch dazu wusste er nicht, in welchem Stockwerk sich seine Freunde befanden.
Schon biss ihm der Rauch in den Augen und kratzte ihm im Hals. Da fand er endlich einen Gegenstand, der sich für seine Zwecke eignete. Eine Glocke aus einigermaßen blankem Glas, die über einen Kerzenhalter gestülpt war. Yan zerriss die Tücher, die über den Bücherstapeln hingen, stopfte die Fetzen in das Behältnis und wickelte das Ganze in ein größeres Stück Stoff ein. Dann tränkte er es mit Öl aus seiner Laterne, zündete es an und schleuderte die brennende Kugel die Stufen hinunter. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zwei Stockwerke tiefer zerbrach und Corenn oder einer der anderen seine Botschaft zu lesen verstand.
Dann rannte er nach oben. Das war das Beste, was er für seine Freunde tun konnte. Mit Létis und Bowbaqs Hilfe musste er versuchen, das Feuer zu löschen. Wenn es nicht schon zu spät war.
Doch je höher er kam, desto dichter hing der Rauch im Treppenhaus, und mit den Schwaden wehte beißender Ruß heran. Plötzlich ließ eine schwere Erschütterung den Stein erbeben. Yan sprang die letzten Stufen hinauf, ohne auf seine Schritte zu achten oder sich um mögliche Geister zu scheren. Nach dem Knall befürchtete er das Schlimmste.
Zu Recht. Die Treppe war von einem mächtigen Schrank versperrt, der quer vor dem Ausgang lag. Hulsidor kauerte davor und versuchte, ihn anzuheben oder zumindest ein winziges Stückchen wegzuschieben. Vergebens.
»Das war Euer arkischer Freund«, fauchte er, als er Yan
bemerkte. »Er hat den Ausgang blockiert! Ich habe es genau gesehen!«
Der junge Mann brachte nur ein Husten hervor. Usul hatte prophezeit, dass Grigán noch vor Ablauf eines Jahres sterben werde. Das war bitter genug. Aber dass sie alle den Tod finden würden, davon hatte er nichts gesagt.
Corenn, Rey, Grigán und Lana folgten den drei Sirenen, begleitet von einer Horde Geister, die zwar weniger redegewandt, aber nicht minder gefährlich waren. Die Meute hielt nun Abstand zu den Sterblichen, ohne dass Lana weiter den Namen der Göttin Eurydis rufen musste. Der Pakt, den sie mit den Sirenen eingegangen waren, schien sie unter ihren Schutz gestellt zu haben.
Die Erben wussten nicht mehr, wie tief sie sich befanden. Wahrscheinlich irgendwo unterhalb des zwanzigsten Stockwerks. Je weiter sie hinabstiegen, desto unregelmäßiger folgten die Geschosse und Treppenabsätze aufeinander, und jede Ebene unterschied sich von der nächsten. Tausend Jahre alte Schriftstücke lagen im Staub durcheinander, halb unter Schutt oder eingestürzten Regalen begraben. Fasziniert betrachtete Corenn die Wissensschätze, die dort ruhten. Aber sie hatten keine Zeit zu verlieren.
Hinter ihnen drängten sich immer mehr Geister auf der Treppe. Grigán befürchtete, dass ihnen der Abstieg in die Tiefe neue Sicherheit geben könnte und sie sich doch noch zum Angriff entschließen würden. Doch als die Erben einen neuen Abschnitt der steinernen Treppe betraten, hielten die Geister plötzlich inne. Auch sie konnten oder wollten nicht tiefer hinunter. Nur die Sirenen führten die Sterblichen weiter.
In den untersten Stockwerken herrschte eine noch größere Unordnung als bisher. Bücher, Regale und Ausgrabungswerkzeuge lagen unter einer hundert Jahre alten dicken Staubschicht wild durcheinander. Von überall schwebten weitere Sirenen herbei und schlossen sich der Gruppe an. Corenn vermutete, dass sie sich der alten Bibliothek von Romerij näherten. Würden sie tatsächlich bis auf den Grund des Turms hinabsteigen?
Auf die Antwort musste sie nicht lange warten. Ihr Marsch endete in einem Saal vor einem Hindernis, das von Menschenhand geschaffen war - oder von den Klauen eines Geistes. Ein gewaltiger Haufen aus Erde, Holzbalken und Schutt türmte sich vor ihnen auf und machte jedes Weiterkommen unmöglich. Der Zugang zu Romerij, dachte Corenn.
›Wartet hier auf mich‹, sagte die Anführerin der Sirenen und
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