Götter der Nacht
tauchte in das Hindernis ein.
»Als hätten wir die Wahl«, knurrte Grigán.
Das Verschwinden der Sirene machte die Gefährten nervös. Sie schien einen gewissen Einfluss auf die anderen zu haben. Zumindest hielten sie sich in ihrer Gegenwart zurück. So zählten die Erben jeden Augenblick bis zu ihrer Rückkehr.
»Auf diesem Ort liegt ein Fluch«, flüsterte Lana verängstigt.
»Tatsächlich?«, neckte sie Rey.
»Ich habe so ein seltsames Gefühl. Als hätte das Böse einen Geruch. Und dieser Geruch dringt von der anderen Seite zu uns herüber.«
Sie beäugten die Barrikade mit Unbehagen. Welche Geheimnisse, welche Rätsel waren dort für immer vergraben?
»Eurydis! Eurydis!«, rief Rey plötzlich wie wild und fuchtelte mit seinem Rapier herum.
»Was ist? Greifen sie an?«, fragte Grigán und ging sofort in Stellung.
»Sie haben versucht, in meinen … Geist einzudringen«, erregte sich der Schauspieler. »Scheusale! Widerliche Weibsbilder! Selbst wenn ich tot wäre, könntet Ihr mir gestohlen bleiben! Phrias soll Euch holen!«
Die Sirenen hörten sich seine Beleidigungen ungerührt an. In ihrem Lächeln lag Mordgier.
»Den Namen des Unheilbringenden sollte man besser nicht aussprechen«, mahnte Lana. »Nie. Und vor allem nicht, wenn man von Wut geblendet ist.«
»Ihre Seelen sind sowieso verdammt«, sagte Rey mürrisch.
Er blieb auf der Hut, während er wie alle anderen ungeduldig auf die Rückkehr der Sirene wartete. Plötzlich polterte es am oberen Ende der Barrikade, und die Erben traten einen Schritt zurück. Dann tat sich ein Spalt auf, durch den ihnen Modergeruch entgegenschlug. Jetzt zeigte sich auch die Sirene: Sie schwebte durch das Hindernis und hielt ein Buch vor sich.
›Hier werdet Ihr Eure Antworten finden‹, sagte sie und reichte Corenn das Buch.
Aufgeregt nahm sie es entgegen. Sie hatte so lange auf diesen Moment gewartet, dass sie es kaum zu glauben wagte. Dick und schwer lag das Buch in ihrer Hand, und es war bemerkenswert gut erhalten, wenn es tatsächlich aus der Zeit vor der Erbauung Romins stammte. Auf dem Umschlag stand kein Titel, und sie schlug es wahllos auf, während Grigán und Rey die Sirenen genau im Auge behielten.
Corenn überflog eine Seite, dann die zweite, und blätterte schließlich zu einer anderen Stelle. Ihre Begleiter platzten fast vor Ungeduld.
»Ich kann es nicht lesen«, sagte sie niedergeschmettert. »Es ist auf Ethekisch geschrieben. Niemand kann es übersetzen.«
»Ihr habt uns betrogen!«, empörte sich Grigán.
›Nein‹, gab der Geist mit einem tückischen Lächeln zurück. ›In dem Buch ist ausführlich vom Jal’karu und seinen Pforten die Rede, ganz so, wie Ihr es gewünscht habt. Ist es meine Schuld, wenn Ihr es nicht lesen könnt?‹
Corenn betrachtete die Seiten traurig. Eine so bittere Enttäuschung hatte sie noch nie erfahren müssen. Das Geheimnis der Insel Ji … Alles, was sie wissen wollten, lag in ihren Händen und war doch unerreichbar.
»Wenn wir das Buch mitnehmen«, begann Lana, »könnten wir versuchen …«
›Das ist verboten‹, rief die Sirene bei der Erwähnung dieses Frevels. ›Wir sind die Hüter des Schatzes. Diese Bücher dürfen niemals ans Tageslicht gelangen. Niemals. ‹
»Lana«, sagte Corenn aufgeregt. »Seht nur.«
Die Ratsfrau reichte ihr ein loses Blatt, das sie zwischen zwei Seiten gefunden hatte. Offenbar handelte es sich um die Übersetzung eines der Abschnitte.
»Das ist Altitharisch!«, rief die Priesterin. »Eine Art Gedicht … Oder ein Gebet … Dieses Wort kenne ich … Und das hier auch … Es würde eine Weile dauern, aber ich könnte es übersetzen.«
›Nichts darf unser Reich verlassen‹, beharrte der Geist und riss ihr das Blatt aus der Hand. ›Niemals. Wenn Ihr Euren Teil der Abmachung erfüllt, lasse ich Euch das Dokument in Ruhe studieren.‹<
Beunruhigt wandten sich die Erben Corenn zu. Die Ratsfrau wühlte in den Taschen ihres Gewands und brachte ein kleines Heft zum Vorschein: ihr Tagebuch.
Die Sirene schnappte es ihr aus der Hand und blätterte neugierig darin herum. Dann ließ sie es mit einem grausamen Lächeln sinken. ›Solche Schriften werden nicht anerkannt‹, sagte sie triumphierend. ›Ihr habt Euren Teil der Abmachung nicht eingehalten!‹
»Ihr gestattet?«, fragte Corenn ungerührt. »Ich habe diesem Band noch keinen Titel gegeben.«
Nachdem der Geist ihr das Heft widerwillig zurückgegeben hatte, nahm Corenn ihr kleines Tintenfass heraus und schrieb einige
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