Götter der Nacht
überrascht worden
und saß auf einem Streifen Land fest, das zu einer immer kleineren Insel zusammenschrumpfte. Der Gaukler hatte ihn aus seiner misslichen Lage befreit, und so wurde der Jongleur zum Wolfsbändiger.
Anaël kannte sich in diesen Breiten gut aus und zeigte den Erben alle möglichen Pflanzen, die in dem rauen Klima gediehen: Graualgen, Buraksweiden, Schwallgras, Selsassen, Seekraut und andere kuriose Gewächse. Die Tierwelt war ebenso vielfältig: Anaël machte sie auf Waulen aufmerksam, auf Mützenmöwen, Springmargoline, Domaliander und patrizische Rennmäuse. Einmal sahen sie sogar ein Nest mit Zönobitenvipern, um das sie einen großen Bogen schlugen. Sie konnten gut darauf verzichten, dass sich Hunderte Schlangen auf ihre Pferde stürzten.
Leider entgingen diese Erläuterungen gerade demjenigen, den sie am meisten interessiert hätten. Bowbaq war mit etwas anderem, genauso Spannendem beschäftigt. Er brachte Yan bei, wie man mit Tieren sprach.
»Tiere denken nicht wie wir«, begann der Riese, während Yan gebannt lauschte. »Sie denken eigentlich gar nicht. Das brauchen sie auch nicht: Alles, was sie tun, tun sie instinktiv. Wenn sie Hunger haben, fressen sie. Wenn sie müde sind, schlafen sie. Wenn sie Gefahr wittern, fliehen sie. Ganz einfach. Würde das Tier zögern, wäre es kein Tier mehr. Es wäre wie du, wie ich, wie wir anderen: ein vernunftbegabtes Wesen. Und es wäre innerhalb kurzer Zeit tot.«
Bowbaq schien in eine Art Selbstgespräch versunken, während er unermüdlich mit der armen Miff spielte, die ihre Scheu noch nicht verloren hatte. Er hoffte, bald ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr die Kette abnehmen zu
können. Das Mausäffchen würde sich vortrefflich für ihre Übungen eignen. Aber vor allem wünschte sich der Riese, dem kleinen Tier etwas Gutes tun zu können, gleichsam als Entschädigung für die Grausamkeiten seiner Artgenossen.
Obwohl Yan den Wagen lenkte, ließ er sich kein einziges Wort seines Freundes entgehen. All das kam ihm wie das Selbstverständlichste von der Welt vor. Doch was er sich mit gesundem Menschenverstand zusammenreimte, klang aus dem Mund eines Erjak wie eine Wahrheit, die auf Erfahrung beruhte.
»Erwarte nicht, Wörter zu erkennen«, fuhr Bowbaq fort. »Es sind nur Empfindungen oder bestenfalls Bilder. Dein Geist übersetzt es dann in Worte. Die Tiere selbst formulieren keine.«
»Verstehe.«
»Und genau das kann ich dir beibringen, Freund Yan. Ich weiß nicht, wie man in einen anderen Geist eindringt. Ich kann nicht erklären, wie das funktioniert. Wenn es dir nicht gelingt, werde ich dir nicht helfen können. Ich kann dir nur, ähm … zeigen, wie du das, was du siehst, auslegen kannst.«
»Einverstanden«, stimmte Yan zu. »Wann fangen wir an?«
Der Riese wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte das Vorhaben gern auf sehr viel später verschoben. Schüchtern, wie er war, hatte er das Gefühl, sich nur zu blamieren, wenn er einem so klugen jungen Mann etwas beizubringen versuchte.
Yan spürte seine Verlegenheit und nahm die Sache in die Hand. »Am besten erklärst du mir zuerst die wesentlichen Punkte, bevor ich überhaupt einen Versuch wage. Bestimmt gibt es ein paar Dinge, vor denen ich mich in Acht nehmen muss? Damit beginnt Corenn immer ihren Unterricht.«
»Ja«, erwiderte Bowbaq, bestärkt durch das Vertrauen seines
Freundes. »Zum Beispiel gibt es drei Fälle, in denen man gar nicht erst zu versuchen braucht, mit einem Tier in Kontakt zu treten: Wenn es glaubt, dass sein Leben in Gefahr ist, dass seine Jungen in Gefahr sind, oder wenn es dich für eine mögliche Beute hält.«
»Das klingt einleuchtend«, sagte Yan.
»Außerdem ist es sehr schwierig, wenn das Tier verletzt ist - und unmöglich, wenn du es verletzt hast -, oder wenn es dich als Eindringling in seinem Revier versteht.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Einschränkungen gibt.«
»Ja. Kontakt kannst du zwar immer aufnehmen, aber ein Austausch ist in solchen Fällen unmöglich.«
»Eigentlich ein bisschen wie bei Grigán«, sagte Yan munter.
Die Freunde grinsten sich an. Das mürrische Naturell des Kriegers war häufig die Zielscheibe ihres Spotts, seit Rey ihn damit aufzog. Doch das minderte die Hochachtung, die sie dem alten Kämpfer entgegenbrachten, nicht im Mindesten.
»Generell kann man sagen«, fuhr Bowbaq fort, »dass es bei Weibchen leichter ist. Bei Männchen geht es immer auch um Dominanz, die man nur schwer durchsetzen
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