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Götter der Nacht

Titel: Götter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Grimbert
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interpretieren, die er im Geist eines Tiers las. Wenn man einige Regeln befolgte, ließen sie sich in menschliche Worte übersetzen.
    Sollte es Yan gelingen, Miffs Geist zu erreichen, war er tatsächlich ein Erjak. Andernfalls konnte Bowbaq ihm nicht helfen.
    Yan rief sich Corenns Belehrungen ins Gedächtnis. Jeder Gegenstand und jedes Lebewesen bestand aus mehreren Elementen: Wasser, Feuer, Erde, Wind und einer fünften Komponente, dem Absorbium. Letzteres bestimmte, wie empfänglich etwas oder jemand für Magie war. Yan hatte die seltene Gabe, die einzelnen Bestandteile des Geistes zu
sehen, wenn er sich stark konzentrierte, eben das »innerste Wesen«, wie Corenn es nannte.
    Wenn Magier ihren Willen gebrauchten, schöpften sie Kraft aus ihrem Körper, um einen der Bestandteile ihres Ziels zu verändern. Meist war das die Erde, die dem Stofflich-Materiellen entsprach und sich relativ leicht verschieben, umformen oder zerstören ließ. Jedenfalls, wenn man bei einem Magier in die Lehre gegangen war und die anschließende Reglosigkeit ertrug, die daraus folgte, dass dem Magier bei jedem Gebrauch seines Willens Kraft geraubt wurde.
    Gedanken zu lesen, erforderte nicht viel Konzentration. Es reichte, den Windbestandteil des Ziels flüchtig zu berühren. Bei einem Stein war dieser zum Beispiel kaum vorhanden. Wenn man aus eben diesem Stein jedoch eine Statue meißelte, nahm der Wind schon etwas mehr Raum ein. Auch Pflanzen trugen nicht viel Wind in sich, uralte Bäume und Pflanzenarten mit magischen Eigenschaften hingegen mehr: Moäle, Holzapfelbäume, Blaufichten oder andere sogenannte »Herzträger«.
    Der Wind war im Grunde der Hauptbestandteil der Tiere und Menschen, wobei es auch dort Unterschiede gab. Insekten hatten am wenigsten Wind, weshalb sie bisweilen weniger Geist in sich trugen als große Laubbäume. Fische, Quallen und Muscheln verfügten über etwas mehr, waren allerdings kaum geistreicher als so manche Silberfliege. Reptilien, Vögel und schließlich die Säugetiere, zu denen auch der Mensch gehörte, hatten am meisten Wind. Tiere, die Milch geben, wie Bowbaq zu erläutern pflegte.
    Es war ihm noch nie gelungen, in den Geist eines Tiers aus einer der anderen Klassen einzudringen. Einige arkische Legenden erzählten von Gesprächen zwischen Erjaks
und Raubvögeln, doch er hatte so etwas noch nie mit eigenen Augen gesehen. Angeblich entsprach die Körpergröße eines Tiers seiner Geistesgröße, und wenn es drei Schritte lange Mücken gäbe, könnte man sie wohl nach dem Geschmack von Menschenblut fragen. Bowbaq würde so etwas jedoch niemals wagen.
    Yan hatte bereits einmal den Wind eines Lebewesens berührt, als er sich auf Grigán konzentrierte. Da er das innerste Wesen sehen konnte, war er nicht nur in der Lage, die Gedanken eines Menschen zu lesen, sondern auch, seinen Geist zu verändern: seine Erinnerungen, seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten, Überzeugungen und verborgenen Gefühle. Corenn hatte ihn mehrmals vor dem Gebrauch dieser Fähigkeit gewarnt, und so wagte Yan nicht einmal mehr bei seinen Übungen, sich so tief in sein Ziel zu versenken. Der Gedanke, dass er Grigáns Geist unwiederbringlichen Schaden hätte zufügen können, machte ihm Angst.
    So hatte er sich in der letzten Zeit darauf beschränkt, verschiedene Kunststücke mit seiner kaulanischen Drei-Königinnen-Münze zu vollbringen, eben jener Münze, mit der er für die Magierprüfung geübt hatte und die er seither als Glücksbringer mit sich herumtrug. Aber nun würde er abermals das Bewusstsein eines Lebewesens erforschen. Er beschloss, sehr vorsichtig zu sein.
    Die Leichtigkeit, mit der es ihm gelang, sich Miffs innerstes Wesen vorzustellen, erschreckte ihn. Obwohl er äußerst behutsam vorgegangen war, hatte er nur wenige Augenblicke dafür gebraucht. Und anders, als wenn er seinen Willen auf den Erdbestandteil eines Ziels richtete, nahm Yan diesmal die Außenwelt weiterhin wahr. Er sah klar und deutlich, wie das Äffchen erstarrte und dann entsetzt vor ihm zurückwich.

    »Ganz ruhig«, sagte er leise und streckte die Hand aus. »Alles ist gut. Ich bin’s nur.«
    »Hat es geklappt?«, fragte Bowbaq neugierig.
    »Ja. Das arme Tier hat Todesangst.«
    Miff verkroch sich unter Bowbaqs Arm, doch der zog sie sanft aus ihrem Versteck. Sie musste begreifen, dass sie ihr nicht wehtun wollten. Nach einer Weile würde sie sich an das Gefühl gewöhnen.
    »Was siehst du?«, fragte er Yan.
    »Eine Art durchsichtige Kugel«,

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