Götterdämmerung
Bezirk so. Von uns wird er Calle Ocho genannt, nach der Straße.«
Neil war mitten in Lateinamerika gelandet. Ladenschilder in Spanisch, Cafes mit einem Ausschank zur Straße hin, an denen Männer mit überlangen weißen Baumwollhemden lehnten und mit den Verkäufern schwatzten, während sich das Licht der spätnachmittäglichen Sonne in den goldenen Ketten um ihren Hals und an ihren Handgelenken fing und Frauen mit aufgespannten Regenschirmen als Sonnenschutz spazierten. Suárez zog ihn in ein Zigarrengeschäft, und Neil beschlich der Argwohn, dass sein Kontaktmann die Gelegenheit nutzen wollte, um ihn für ein paar Freunde um einige Dollar zu erleichtern. Nun, Suárez würde mit der Enttäuschung leben müssen. Lokalkolorit hin oder her, Neil hatte nicht die Absicht, den örtlichen Zigarrenumsatz zu erhöhen. Selbst in seinen Rauchertagen hatte er für Zigarren nie etwas übrig gehabt.
Bis auf einen Mann war der Laden leer. Über den verlassenen Holztischen und Bänken hing ein Druck mit den etwas zu intensiven Farben des späten 19. Jahrhunderts und zeigte einen Mann um die vierzig, der weder Uniform trug noch asketisch genug für einen Heiligen wirkte. Wie bei dem Amulett des Taxifahrers war es Neil unmöglich, die Darstellung zu identifizieren. Wie sehr wir an unsere eigenen kulturellen Ikonen gewöhnt sind, dachte er.
Suárez sprach energisch auf Spanisch auf den Mann ein, dann nickte er Neil kurz zu und meinte, Lázaro, der Miteigentümer dieses Geschäfts und der Jugendfreund, den sie suchten, sei beim Domino hundert Meter weiter. »Gracias«, sagte Neil, ehe sie den Laden verließen, und Suárez zog eine Grimasse.
»Lassen Sie das lieber, Kumpel«, sagte er. »Ihr Yankees kriegt kein ordentlich gelispeltes c hin, da beißt die Maus keinen Faden ab.«
»Wen nennen Sie hier Yankee?«, schoss Neil zurück und kniff die Augen zusammen, als die Sonne nach dem Dämmerlicht des Inneren sein Gesicht traf. »Ich bin ein gestandener Südstaatler aus Louisiana, mon ami.«
»Und wie lange hat es gedauert, bis Sie sich diesen Ostküsten-Akzent antrainiert haben?«, fragte Suárez unbeeindruckt.
»Nicht so lange wie bei Ihnen, möchte ich wetten«, erwiderte Neil, und Suárez grinste. »Die Wette würden Sie wahrscheinlich gewinnen.«
Außer dem Zigarrenladen hatten nur wenige weitere Geschäfte geöffnet; die Türen waren mit Holzläden verbarrikadiert, was Neil eine Weile verwirrte, bis er sich daran erinnerte, dass Sonntag war. Wenn auch das restliche Amerika darin keinen Grund für geschlossene Geschäfte sah, die Kubaner von Miami taten das sehr wohl.
Die Häuser waren gelb oder weiß gestrichen, sodass ihm ein in Grün getauchtes Gebäude ins Auge stach, während sie die Straße entlangschlenderten. Auf den Sockel der Hauswand direkt über dem Boden hatte jemand mehrere kleine Figuren gemalt, die ihn wieder an die Heiligenfigur seines Taxifahrers erinnerten, die er nicht hatte einordnen können. Diesmal beschloss er zu fragen.
»Haben Sie mir nicht gerade erzählt, Sie wären aus Louisiana?«
»In Morrow gibt es mehr Baptisten als Katholiken«, gab Neil zurück, »also könnte ich jetzt behaupten, wiedergetauft zu sein und überhaupt keine Heiligen zu kennen. Aber schön, ich habe als Kind ein paar Rosenkränze gebetet. Allerdings war meine Mutter Atheistin und sah es nicht gerne, wenn meine Großeltern mich mit in die Messe nahmen.«
Die Erinnerung ließ ihn die Holzperlen in seinen Händen spüren, während seine Großmutter ihm zuflüsterte, er solle für die Genesung seiner Mutter beten. Damals hatten alle, außer ihm, bereits gewusst, dass es hoffnungslos war, dass der Krebs sie auffraß. Die falsche Hoffnung war etwas, das er weder seinen Großeltern noch Gott je verziehen hatte.
Suárez rümpfte die Nase. »Rosenkränze meinte ich nicht. Schauen Sie sich die Figuren genauer an, dann wird es Ihnen schon dämmern. Erinnern Sie die nicht an etwas?«
An Picasso-Imitate im afrikanischen Stil, gekreuzt mit orthodoxen Ikonen, dachte Neil, sprach es jedoch nicht aus. Eine der Figuren hielt etwas in der Hand, das wohl eine Schlange sein sollte, und er begriff.
»Oh. Voodoo.«
»Der Weg der Heiligen. Santeria. Älter als Voodoo und mit stärkerem afrikanischen Einfluss. Behauptet jedenfalls meine Frau, und die hat ihre Doktorarbeit über das Zeug geschrieben. Sie könnte Ihnen was von der Verschmelzung der Yoruba-Gottheiten mit katholischen Heiligen erzählen und wieso die Meeresgöttin gleichzeitig die
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