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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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entgegen, ehe ihr Verstand ihre Gefühle einholen konnte.
    ‹Victor Sanchez ist kein Dieb. Er ist der integerste Forscher und der beste Mensch, den ich kenne. Wenn du wirklich die Wahrheit über ihn herausfinden willst, warum sprichst du dann nicht mit seinen Freunden, statt im Internet an den Haaren herbeigezogene Behauptungen aufzustellen?›
    ‹Du kennst Victor Sanchez?›
    Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wozu sie sich hatte provozieren lassen. Sie biss sich auf die Lippen.
    ‹Morgan?›
    Weder Dedalus noch Sabrecat kamen ihr zu Hilfe; sie alle warteten wohl auf ihre Antwort. Flüchtig erwog Beatrice, sich einfach auszuloggen. Aber das wäre feige, und die anderen würden später nie wieder mit der gleichen Zwanglosigkeit mit ihr reden, die sie brauchte wie die Luft zum Atmen. Sie wollte den Freundeskreis nicht verlieren, den sie im Netz gefunden hatte. Außerdem, dachte sie plötzlich, außerdem konnte man das Ganze auch zum Guten wenden. Wenn es sich um einen Spinner handelte, der sich nur als Neil LaHaye ausgab, war es belanglos, was sie schrieb. Wenn es tatsächlich Neil LaHaye war, der sich gerade im Chat befand, und wenn er wirklich über ihren Vater schreiben wollte - warum eigentlich nicht?
    Im Prinzip war sie davon überzeugt, dass ihr Vater nur ihretwegen die ganze Zeit in Alaska blieb, auf diesem Posten mit all seinen Sicherheitsvorkehrungen, die ihm noch nicht einmal die Veröffentlichung von Aufsätzen in Fachzeitschriften gestatteten oder die Teilnahme an Kongressen. Wenn ein Artikel über ihn erschien in einem unabhängigen Medium, dann würde dieser Geheimniskrämerei vielleicht zwangsläufig ein Ende gesetzt. Er brauchte nicht mehr ihr zuliebe auf Dinge zu verzichten, die für einen Wissenschaftler seines Ranges selbstverständlich sein sollten.
    ‹Ja›, schrieb sie, gab sich einen Ruck und fügte hinzu: ‹Ich kann aber nicht ins Detail gehen. Wenn du wirklich an der Wahrheit über Victor Sanchez interessiert bist, daran, was für ein Mensch er ist, fang am Anfang an. In Miami.›
     
    * * *
     
    Die Hitze von Miami legte sich wie eine feuchte Hülle um seine Schultern, als er den Flughafen verließ. Florida war nicht Louisiana, und das allgegenwärtige Spanisch gehörte nicht zu seinen Erinnerungen, aber die Mischung aus Hitze, Luftfeuchtigkeit und Benzin war die gleiche, die er auf den Straßen seiner Jugend eingeatmet hatte.
    Der dickliche Taxifahrer, der ihn zu seinem Hotel brachte, schimpfte, während er von Radiostation zu Radiostation zappte. »Nichts Gutes«, sagte er. »Nur noch dieser Techno-Kram - mögen Sie das?«
    Neil murmelte etwas Unbestimmtes und stellte mit einem Blick auf die Fensterscheiben fest, dass die Taxifahrer von Miami es mit der Demonstration von Patriotismus erheblich ernster nahmen als ihre Berufsgenossen in Boston. Aufkleber mit dem Sternenbanner verzierten alle Scheiben, groß und prangend; im Vergleich dazu schien die einzige kleine Repräsentation der kubanischen Flagge an der Heckscheibe winzig. Die Logos waren so unübersehbar wie die amerikanischen Flaggen: »United we stand. God bless America.«
    Vom Spiegel des Fahrers hing eine Heiligenfigur herab, die Neil an ein buddhistisches Amulett erinnerte. Er durchforschte seine Kindheitserinnerungen an unwillige Kirchgänge und fand keine Darstellung, die der geschlechtslos wirkenden Tänzerfigur auf grünem Hintergrund entsprach. Aber er hatte zu viel vergessen, um sich sicher sein zu können.
    Der Sender, mit dem sein Fahrer sich schließlich abgefunden hatte, brachte Nachrichten, in Spanisch, und Neil stellte fest, dass er nur jedes fünfte Wort verstand. Nun, es war Ewigkeiten her, seit er sein Schulspanisch hatte aufpolieren müssen. Überall in Englisch verstanden zu werden, half dabei kaum.
    Der Taxifahrer fluchte. »Fidel, dieser Scheißkerl«, sagte er. »Wann kratzt der endlich ab?«
    »Haben Sie vor, nach Kuba zurückzukehren, wenn er es tut?«, fragte Neil ohne allzu großes Interesse.
    »Ich doch nicht«, erwiderte der Fahrer. »Das ist mein Land hier. Aber der Mistkerl gehört in die Hölle, am liebsten schon vorgestern.«
    In seinem Hotel wartete ein Umschlag mit einer Nachricht auf ihn. Eine Stunde später saß er in der Lobby mit Jorge Suárez, dem Inhaber eines Detektivbüros, und trank eisgekühltes Bier.
    »Ich muss sagen, ich war überrascht, von Ihrem Anliegen zu hören, Neil«, sagte der Mann, der ihn mit seiner gemütlichen Korpulenz und den ergrauenden Locken an einen Teddybären in

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