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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Jungfrau Maria sein kann, aber was mich betrifft, ich weiß nur, dass ich keinen Palo-Priester wütend machen möchte. Die Kerle klauen Leichen für ihre Riten.«
    »George, Sie verwechseln mich schon wieder mit einem Yankee, den Sie auf den Arm nehmen können.«
    »He, ich dachte, Sie brauchten Hintergrund für Ihr Buch? Trabajos con muertos gehört zum Lokalkolorit.«
    »Ich komme darauf zurück«, sagte Neil trocken, »wenn sich Victor Sanchez als tot herausstellen sollte. Schließlich will ich mein Interview.«
    »Spielverderber«, entgegnete Suárez und entblößte die Zähne wie ein Frettchen. Er bog in einen kleinen Innenhof ein. Die Hausmauer, an die der Hof grenzte, war bemalt, doch mit einer gewissen Erleichterung stellte Neil fest, dass er die Darstellung diesmal identifizieren konnte; zur Abwechslung eine politische Ikone. Das Foto einer panamerikanischen Konferenz musste dem Bild als Vorlage gedient haben. Die Tische, Bänke und Sonnenschirme, die den Hof füllten, waren ausschließlich in Blau gehalten. Er sah nirgendwo eine Frau, aber dafür eine Menge Männer unterschiedlichen Alters, die Schach oder Domino spielten. Suárez stemmte die Hände in die Seiten, während sein Blick über die Spieler flog.
    »Ah«, rief er schließlich. »Da ist er.«
    Neil folgte ihm, bis sie vor einer Gruppe standen, die mit konzentrierter Miene um ein Dominospiel herumsaß. Suárez räusperte sich.
    »Senor Lázaro«, sagte er behutsam, »ich störe Sie nur ungern…«
    »Dann lass es bleiben«, entgegnete einer der Männer kühl, der mit seinem grau melierten Schnurbart und den schütteren Haaren irgendwo zwischen fünfzig und sechzig schwebte, in makellosem Englisch.
    »… aber wir hatten heute eine Verabredung.«
    »Mmmm.« Lázaro seufzte, lehnte sich zurück und betrachtete die Neuankömmlinge skeptisch.
    »Sie sind der Kerl, der über Victor Sanchez schreiben will, oder?«
    »So ist es.«
    »Und warum?«
    »Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte Neil, »Ihnen das beim Essen zu erläutern, Senor.«
    Lázaro schnaubte. »Es ist noch viel zu früh zum Essen«, gab er zurück. »Noch nicht mal sechs Uhr.«
    Neil lächelte ihn an und wählte absichtlich die formellste Ausdrucksweise, die ihm zur Verfügung stand.
    »Nun, meine Einladung galt auch zum Abendessen, Senor, und ich hatte an einen angemessenen Zeitpunkt gedacht - sagen wir, um neun? Jetzt sind Sie, wie ich sehe, beschäftigt, und ich würde mir nie erlauben, Sie daran zu hindern, Ihr Spiel zu gewinnen.«
    »Sie wissen zumindest, wie man Respekt zeigt«, stellte Lázaro trocken fest. »Also schön.«
     
    »Das Versailles und eine Ausdrucksweise wie aus einer Seifenoper«, stellte Suárez später beeindruckt fest. »Die Story scheint Ihnen ja wirklich am Herzen zu liegen.«
    »Das Versailles war Ihre Idee«, antwortete Neil und vertiefte sich in die Speisekarte des Restaurants, das Suárez ihm als das beliebteste des kubanischen Miami genannt hatte. Die gravierten Spiegel, aus denen die Wände hier bestanden, und die Leuchter machten den Namen nicht ganz unverständlich.
    »Lechon asado adobado y deshuesado«, meinte Suárez und klang etwas schadenfroh, »das müssen Sie nehmen, wenn Sie wirklich Kuba hier schmecken wollen.«
    »Und das wäre?«
    »Schwein nach kubanischer Art gebraten. Mit den entsprechenden Zutaten. Ist nicht für jeden Angelsachsen zu verkraften, aber da Sie ja aus dem Süden sind…«
    »Jorge, ich habe mal ein von einem Lastwagen erwischtes Opossum gegessen, nur weil ich mit einem Vetter eine Wette abgeschlossen hatte. Mich schreckt nichts mehr.«
    Neil blickte auf seine Uhr. Es war bereits zwanzig Minuten nach neun, aber auf eine gewisse Unpünktlichkeit musste man in diesen Breiten gefasst sein. Es hatte seinerzeit auch bei ihm eine Weile gedauert, bis er sich an den Zeitbegriff des Nordens gewöhnt hatte, doch nun war ihm das Ganze so selbstverständlich, dass er sich dabei ertappte, unruhig mit einem Zeigefinger auf den Tisch zu klopfen.
    »Immer mit der Ruhe«, sagte Suárez. »Der Alte wird schon aufkreuzen. Die Schleimerei hat sich gelohnt. Er mochte Sie, das konnte ich sehen.«
    Sie waren bereits bei ihrem zweiten Glas kalifornischem Wein angelangt, als Suárez mit seiner Prophezeiung Recht behielt.
    Lázaro Horta hatte sein Hemd durch eine dunkle Weste ersetzt und trug nun sehr offensichtlich ein Toupet; ein menschlicher Pinsel, der sich an ihrem kleinen Tisch niederließ.
    »Also«, begann er ohne weitere Umschweife, »warum

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