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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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war’s das. Du vergibst dir dabei doch nichts.«
    Er schwieg. Der Schein ihrer Taschenlampe, die sie zwischen sich und ihrem Vater auf den Boden gerichtet hatte, ließ sein Gesicht wie eine der griechischen Theatermasken wirken, die Tess ihr einmal aus dem Urlaub mitgebracht hatte; die buschigen Augenbrauen traten stärker hervor als bei normaler Beleuchtung, und die Augen schienen zwei tiefe bodenlose Brunnen zu sein.
    »Weißt du«, fügte Beatrice hinzu, »du meinst, du brauchst Warren als Herausforderung. Aber du und Warren, ihr gehört zur selben Welt. Für mich gilt das Gleiche. Manchmal kommt es mir so vor, als ob wir hier in unserem eigenen sorgfältig abgeschirmten Mikrokosmos leben, und dass es da noch einen Makrokosmos gibt, ist eigentlich nur eine Legende. Sprich mit jemandem von draußen, Dad, das ist eine echte Herausforderung.«
     
    * * *
     
    Karten für ein Spiel der Red Sox zu bekommen, war keine Kleinigkeit, und es hatte Neil ein paar dick aufgetragene Schmeicheleien gekostet; doch der Wunsch, seinen Kindern durch etwas eine Freude zu machen, bei der wirklich nichts schief gehen konnte, stellte eine beachtliche Motivation dar. Julie hatte früher kaum Interesse für Baseball gezeigt, aus Trotz, vermutete er. Aber offenbar begann sie genau wie Ben, den Status eines Scheidungskindes zu akzeptieren, und betrachtete Enthusiasmus für einen Lieblingssport ihres Vaters nicht mehr als Verrat an ihrer Mutter. Außerdem war ein Spiel der Red Sox etwas, mit dem die Geschwister garantiert beide in ihrer Schule angeben konnten. Der letzte Besuch in Boston musste auch Deirdre als ein Erfolg geschildert worden sein; als sie mit Neil wegen des Baseball-Spiels telefonierte, schien sie aufgeräumt und verzichtete auf jeden Widerhaken. Sie fragte noch nicht einmal, was er mit Clive Forsythe gemacht hatte, und Neil verzichtete seinerseits auf jede bissige Anspielung auf den Senator.
    Kurz nachdem Deirdre die Assistentin der alten Stabschefin Cunninghams geworden und damit zum ersten Mal ins unmittelbare Gesichtsfeld des Senators gerückt war, hatte er sie und ihren Mann einmal zu einem Essen eingeladen. Ob der Senator nun eine freundliche gesellschaftliche Geste machen oder nur einen damals mehr berühmt als berüchtigten Journalisten für sich gewinnen wollte, blieb ein Punkt, über den sich Neil und Deirdre nie einig werden konnten. Jedenfalls blieb es für Neil die erste und letzte private Begegnung mit Deirdres Arbeitgeber.
    Der Abend hatte viel versprechend begonnen; Senator Cunningham verfügte über unleugbares Charisma, und seine Reformvorschläge für das Schulwesen, sein entschiedenes Ablehnen von Biowaffen klangen selbst für Neil ehrlich. Aber dann war das Gespräch auf die Frage der Geheimhaltung gekommen und für Deirdre zu einem Albtraum geworden, während Neil mehr und mehr jede Rücksichtnahme fahren ließ.
    »Ich bitte Sie«, hatte Cunningham lächelnd erklärt, »in Washington kann niemand ein Geheimnis bewahren. Wir sind, Gott sei’s geklagt, ein klatschsüchtiges Dorf.«
    »Tut mir Leid, Senator, aber das ist Unsinn. Den weitaus größten Teil von dem, was sich hier abspielt, erfährt die amerikanische Öffentlichkeit nie, und das wenige, das ihr dann doch mitgeteilt wird, in der Regel Jahrzehnte später. Wenn überhaupt. Warten wir nicht immer noch darauf, dass die Kennedy-Akten vollständig freigegeben werden?«
    Das Lachen des Senators hatte ungezwungen geklungen.
    »Wenn wir nicht warten würden, wäre die amerikanische Buchindustrie um ein ganzes Genre ärmer. Banale Fakten pflegen nach den wilden Verschwörungsphantasien eher zu enttäuschen, Neil.«
    Er war nicht umsonst als Debattierer berühmt.
    »Natürlich«, war Cunningham in einem wesentlich ernsteren Tonfall fortgefahren, »gibt es Geheimhaltung im Interesse der nationalen Sicherheit. Sie wollen doch nicht etwa, dass jeder x-beliebige Terrorist unsere neuesten Strategien den Medien entnehmen kann?«
    »Von Terrorismus und Ermittlungsstrategien rede ich hier nicht. Mir geht es grundsätzlich darum, wie in diesem Land Entscheidungen gefällt werden von Menschen, die sich offenbar außerhalb jeder Kontrolle demokratischer Strukturen wähnen. Nehmen Sie unsere Aktionen in Chile, in Griechenland unter der Junta, in Zypern, in Osttimor. Ist so etwas wirklich amerikanisch? Dinge, die angeblich im Namen Amerikas getan wurden und von denen noch nicht mal der Kongress eine Ahnung hatte, als sie geschahen. Von der Öffentlichkeit ganz zu

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