Götterdämmerung
das Spiel der Red Sox stattfand, das er mit seinen Kindern hatte besuchen wollen.
Neil fluchte innerlich. So eine Zerreißprobe hatte er gebraucht. Es gab natürlich die Möglichkeit, sie und Sanchez um einen anderen Termin zu bitten. Aber er war überzeugt, dass dieses spezielle Fenster ihm nur zu diesem einen Moment offen stand. Man teilte keinem Eremiten mit, der seit fast einem Vierteljahrhundert verschwunden war, man habe gerade keine Zeit, wenn er endlich wieder auftauchte, und müsse stattdessen ein Baseball-Spiel anschauen. Vor allem nicht, wenn man Auskünfte von ihm haben wollte.
Eine andere Sache war es, das den Kindern beizubringen. Sie würden enttäuscht sein. Doch Spiele der Sox gab es noch viele; die Chance auf ein Treffen mit Sanchez dagegen war die erste und letzte ihrer Art.
Mit einer eigenartigen Mischung aus schlechtem Gewissen und Triumph rief er Deirdre in Washington an.
Das Büro von Senator Cunningham hatten Innenarchitekten entworfen, die Psychologie als Hobby betrieben. Kein Möbelstück war dem Zufall überlassen worden. Das etwa fünfundfünfzig Quadratmeter große Zimmer, in dem der Senator selbst residierte und Besucher empfing, wenn er nicht im Land unterwegs war, um Spendengelder aufzutreiben, drückte mit seinen dunklen lederbezogenen Stühlen und dem großen Schreibtisch gleichzeitig Macht und Erdverbundenheit aus. Natürlich konnte man auch sein Geld riechen, aber es hielt sich in der Waage und wirkte weder protzig noch gekünstelt bescheiden. Das Bild, auf das der Senator von seinem Schreibtisch aus blickte, zeigte eine Rinderherde und war nichts, für das die Auktionshäuser sich interessiert hätten, es war jedoch auch kein bescheidener Druck; ein Künstler aus seinem Heimatstaat war für dieses monumentale Stück figurativer Malerei verantwortlich. Auf dem Schreibtisch standen die Fotos der Familienangehörigen, daneben der bronzene amerikanische Adler. Die obligaten Prominentendokumente, Fotos, die den Senator mit dem derzeitigen Präsidenten, mit Ronald Reagan und, eine gewagtere Option, mit Richard Nixon zeigten, standen gut sichtbar über die Bücherregale verteilt, alle in Augenhöhe, aber nicht direkt nebeneinander. Ein Journalist, der ein paar Minuten auf den Senator warten musste, würde in diesem Zimmer den Beleg für eine breit gefächerte Interessenslage entdecken, von Viehzucht über Politikermemoiren bis hin zu Studien über die Vor- und Nachteile genmanipulierter Ernährung, versetzt mit einigen bekannten Thrillern und, ein Punkt, der die Offenheit des Senators für Minderheiten und weibliche Interessen demonstrierte, den neuesten von einer farbigen Autorin geschriebenen Roman. Häufig genug erwies sich solch ein Buch als der ideale Einstieg für ein Interview.
Deirdre, die für die Buchauswahl genauso verantwortlich war wie für das gesamte übrige Interieur und ein Drittel der Bände regelmäßig auf den neuesten Stand brachte, hatte sich früher immer einfach nach der Empfehlung von Oprah Winfrey gerichtet und ihrem untrüglichen Instinkt für das, was Erfolg hatte und politisch korrekt war. Sie vermisste Oprahs Buchclub, seit die Sendung eingestellt worden war. Nach der Bestsellerliste zu kaufen oder sich auf die Intellektuellen des Times Literary Supplement zu verlassen, war ihr zu riskant. Ein Mitglied ihres Stabs war nun damit betraut, in Frage kommende Bücher zu lesen und ihr kurze Zusammenfassungen zu schreiben, damit sie gewiss sein konnte, dass der Senator in seiner Lektüreauswahl weiterhin auf den Pfaden der Majorität wandelte.
Sie ging gerade den Entwurf für die neueste Rede des Senators durch und versuchte sich zu konzentrieren, ohne den Ärger über Neil die Oberhand gewinnen zu lassen, als der Senator sie zu sich rief.
»Erschöpft, Deirdre?«, rief er. »Alles in Ordnung?«
Und wie erschöpft sie war. Gestern Abend musste sie nach einem langen Arbeitstag alles daran setzen, um Julie und Ben Neils Absage so schonend wie möglich beizubringen, mit zweifelhaftem Erfolg. Doch es wäre eine Sache der Unmöglichkeit gewesen, mit dem Senator über ihren Exmann zu sprechen. Der Senator und seine Mitarbeiter äußerten sich in gegenseitigem Einvernehmen nie über ihr Privatleben. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass sich der respektvolle freundliche Umgangston nie zu irgendeiner Intimität auswuchs. Bei ihrer Einstellung verheiratet gewesen zu sein, war ein Plus gewesen, was man von der Identität ihres Ehemanns nicht unbedingt
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