Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
Kräfte waren schneller erlahmt, als er erwartet oder zumindest gehofft hatte.
Die Müdigkeit hatte seinen Blick getrübt, und irgendwann war der Kontakt abgebrochen. Zwar hatte der Dichter versucht, noch einmal zu den Eingeschlossenen vorzudringen, war jedoch kläglich gescheitert.
Er schämte sich seiner Schwäche, auch jetzt noch, da der Stundenzeiger der großen Standuhr bereits auf Mitternacht vorrückte.
Normalerweise verschmähte der Dichter den Genuss von Alkohol, aber heute hatte er gegen seine sonstigen Gewohnheiten ein Glas Rotwein als Schlaftrunk mit nach oben genommen. Vielleicht, so hoffte er, würde der schwere Burgunder die trüben Gedanken vertreiben, die ihm nach wie vor im Kopf herumspukten, und ihn irgendwann in den Schlaf hinüberdämmern lassen.
Bislang verspürte er allerdings – abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl – kaum eine Wirkung. Wenn er die Augen schloss, wurden die Bilder des Tages sofort wieder lebendig und mit ihnen die Befürchtungen und das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht.
Ihm blieb nur die Hoffnung, dass es nicht nur der blinde Zufall gewesen war, der seine Blicke gelenkt und ihn die Verschwundenen genau in dem Moment hatte aufspüren lassen, in dem sie in höchster Gefahr seiner Hilfe bedurften.
»Dort drüben bist du der einzige Gott, den sie haben«, hatte der flügellose Engel gesagt, aber das war möglicherweise nicht die ganze Wahrheit. Vielleicht waren sie es ja selbst, die nicht zulassen konnten, dass Miriam etwas zustieß, und er war nur ihr Werkzeug.
Hatte er nicht unmittelbar vor der Entdeckung das Gefühl gehabt, nicht mehr er selbst zu sein, sondern Teil von etwas Größerem, das seinen Blick gelenkt hatte? Es war nur ein kurzer, schwindelig machender Moment gewesen, doch je länger der Dichter darüber nachdachte, desto mehr wuchs seine Überzeugung, dass es sich genau so abgespielt hatte.
Die entscheidende Frage blieb allerdings offen: War es tatsächlich ihre Gegenwart gewesen, die er in diesem Moment gespürt hatte? Der Dichter wusste es nicht, und vermutlich würde er auch nie Gewissheit darüber erhalten. Dennoch empfand er die Vorstellung als tröstlich, bedeutete sie doch letztlich nichts anderes, als dass Miriam und ihre Begleiter – zumindest momentan – in Sicherheit waren. Wenn tatsächlich die Geglückten der Schöpfung über sie wachten, dann konnte ihnen nichts geschehen …
Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief,
deklamierte er flüsternd. Der Fluss der vertrauten Worte beruhigte ihn, und als er die Augen schloss, erwartete ihn nichts als das stille dunkle Meer der Nacht.
Der Dichter schlief tief und traumlos, und als er erwachte, zeichnete die Morgensonne bereits leuchtende Figuren auf die Dielen seines Schlafgemachs.
Miriam! , dachte er, als die Erinnerung wiederkam, und sprang auf. In fliegender Eile kleidete er sich an und stürmte an dem verdutzten Carlo vorbei ins Freie. Ihm war durchaus klar, wie widersinnig sein Verhalten im Grunde war, aber das änderte nichts an seiner Ungeduld, die jede andere Erwägung auslöschte.
Gegen das, was auf dem Spiel stand, war der Verzicht auf die gewohnte Morgenmahlzeit ein geringes Opfer. Er hätte ohnehin keinen Bissen heruntergebracht, solange er nicht wusste, wie es Miriam ging. Doch die innere Unruhe, die ihn vorwärtstrieb, hatte noch einen weiteren Grund, der nicht weniger irrational war. Es war zwar nur ein Gefühl, aber dieses Gefühl wurde mit jedem zurückgelegten Schritt stärker: Etwas würde geschehen – etwas, das nicht nur Miriam und ihre Begleiter betraf, sondern die Welt seiner Schöpfungen insgesamt und möglicherweise sogar ihn selbst. Trotz der gewaltigen Entfernung, die das Graue Land von seiner Heimstatt trennte, konnte er es spüren wie ein herannahendes Gewitter.
Es war noch früh am Morgen, die Luft klar und kalt. Selbst das Meer schien noch zu schlafen, ebenso die Vögel, deren ausgelassenes Gezwitscher ihn sonst auf allen Wegen begleitete. Das Geräusch der träge ans Ufer rollenden Wogen klang wie der schwere Atem eines schlafenden Tieres.
Als der Dichter in den Schatten des Waldes eintauchte, verstummte auch das dumpfe Dröhnen der Brandung, und die Stille wurde drückend. Der weiche Boden verschluckte das Geräusch seiner Schritte, und nicht der leiseste Windhauch bewegte die Zweige.
Das Wispern der Blätter und
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