Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
Existenz, die ihn in die Lage versetzte, Worte in Dinge zu verwandeln.
Ein wenig bange war ihm dennoch, als er seine Handflächen auf die warme Haut des Baumwesens legte und spürte, wie sie langsam darin versanken wie in weichem Moos. Das sanfte Pulsieren unter der Rindenhaut wurde stärker, während sich Hunderte tastender Fasern mit seinen eigenen Nerven verbanden, was ihm das Gefühl gab, selbst in den Baum hineinzuwachsen, mit ihm zu verschmelzen, bis es keinen Unterschied mehr zwischen drinnen und draußen gab.
Sein Bewusstsein blieb jedoch unverändert, es war allein sein Körper mit all seinen Sinnen, der sich veränderte und ausdehnte von den Füßen, die jetzt Wurzeln waren, bis hin zu seinem Gesicht, hoch über allem.
Der Dichter ließ nicht nur den eigenen Körper, sondern auch den Wald, die Küste und selbst den ewig blauen Himmel hinter sich zurück. Die Erde zu seinen Wurzelfüßen war nur noch ein Ort von vielen. Es sah andere, unzählige, mehr, als es Sterne gab. Sie offenbarten ihm ihre Eigenart, wenn er seinen Blick darauf fokussierte, der wie der Blick des Gottes seiner Kindertage war. Manchmal vermochte er, die winzigsten Einzelheiten wahrzunehmen, einen Vogel etwa, der aus dem Nest gefallen war, oder ein Kind, das schrie, weil man es allein gelassen hatte. Derartige Details offenbarten sich ihm allerdings lediglich an solchen Orten, die ihm vertraut waren, vielleicht weil er sie einst besucht oder sie irgendwann später sogar selbst erschaffen hatte.
Dass er dazu imstande war, hatte der Dichter nur zufällig entdeckt und war nicht wenig erschrocken gewesen, als eine Szene aus einem alten Gedicht, die eher zufällig vor seinem inneren Auge aufgetaucht war, plötzlich Gestalt angenommen hatte.
Ort des Geschehens war ein trotz seiner immensen Größe verloren erscheinender Ort gewesen, der aus nichts anderem zu bestehen schien als grauer, endloser Wüste. Angesichts dieser Trostlosigkeit hatte er sich an die Verse vom letzten Haus der Welt erinnert, an die geduckten alten Häuser und Scheunen des verlassenen Dorfes, die ihn damals zu diesen Zeilen inspiriert hatten. Und dann hatte er sie plötzlich vor sich gesehen, als hätte die graue Ebene nur darauf gewartet, etwas entstehen zu lassen, an dem sich das Auge festhalten konnte. Natürlich hatte der Dichter zunächst an eine Sinnestäuschung geglaubt, an eine Fata Morgana, die sich alsbald auflösen würde. Doch nichts dergleichen war geschehen. Das buchstäblich aus dem Nichts entstandene Dorf behauptete auch bei genauerem Hinsehen seine Existenz bis hin zu den winzigsten Details, einer abgebrochenen Zaunlatte zum Beispiel, dem Moos auf dem Mauerwerk eines Brunnens oder einem rostigen Vorhängeschloss an einer Schuppentür. Ungläubig hatte der Dichter all diese Einzelheiten registriert, die keinerlei Zweifel an der Realität seiner Schöpfung zuließen, bevor er sich erschrocken abgewandt hatte. Ohne Zweifel war er im Begriff, wahnsinnig zu werden.
Allein Er vermochte, Dinge aus dem Nichts zu erschaffen, und obwohl der Glaube des Dichters im Lauf der Jahre manche Erschütterung erfahren hatte, erschien ihm die Vorstellung einer eigenen Schöpfung immer noch als Sakrileg. Zeit seines Lebens hatte er seine Berufung darin gesehen, Bilder – reale und solche, die allein in seiner Vorstellung existierten – so in Worte zu kleiden, dass sie vor dem geistigen Auge des Lesers wiedererstanden, ohne diesen jedoch zu bevormunden, wie Fotografen oder schlechte Maler es taten. Das war ihm nicht immer gelungen – manche Bilder widersetzen sich einfach allen Bemühungen, sie in das Gerüst der Sprache einzupassen –, dennoch durfte er sich schmeicheln, es dabei zu einer gewissen Meisterschaft gebracht zu haben. Wie jeder Dichter hoffte er darauf, dass sein Werk über die ihm zugemessene Lebenszeit hinaus Bestand haben würde. Allerdings wäre ihm dabei niemals in den Sinn gekommen, dass es in einer anderen Form überdauern könnte als in der bedruckten Papiers.
Dennoch war es geschehen, nicht nur einmal, sondern immer, wenn er seinen Blick vom Weltenbaum aus auf das ungeformte Land richtete und ihm seine Vorstellungen aufprägte. In gewisser Weise ähnelte es der Leinwand eines Malers oder vielmehr einem ganzen Atelier, denn inzwischen war dort eine ganze Reihe von Zeugnissen seiner »Besuche« zu finden. Angesichts der immensen Größe des Areals stellten sie jedoch nur winzige Oasen innerhalb der grauen Wüste dar, die keinem anderen Ort des
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