Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
wollte der Dichter ausrufen, biss sich im letzten Augenblick jedoch auf die Lippen. Er ahnte, dass ihm die Antwort noch weniger gefallen würde als das eben Gehörte.
Wäre es dir lieber, die Last der Erde auf den vermodernden Resten deines Körpers zu wissen und in traumloser Dunkelheit auf das ungewisse Wunder der Auferstehung zu warten? , konnte eine dieser Antworten lauten, und der Dichter hatte nicht vor, sie zu provozieren.
Eine Frage brannte ihm dennoch auf der Seele, auch und gerade, wenn er sich der ihm zugedachten Aufgabe stellen wollte, die doch eigentlich einem anderen gebührte. Und er musste sie jetzt stellen, bevor er den Mut verlor. Friedrich Nietzsche hatte sie seinerzeit in der ihm eigenen Kompromisslosigkeit mit »Gott ist tot!« beantwortet, bevor sich sein Geist verirrte, aber so weit wollte der Dichter nicht gehen.
»Warum lässt Er das zu?«, fragte er stattdessen mit brüchiger Stimme.
»Weil es Teil unseres Weges ist«, erwiderte der Besucher mit einem Lächeln, in dem nichts Falsches oder Gezwungenes lag. »Warum sollte Er uns vorschreiben, wie wir ihn zu gehen haben?«
Der Dichter schwieg, obwohl er manches hätte einwenden können; aber das wäre der Widerspruch eines Kindes gewesen, das die Wirklichkeit nicht wahrhaben will. Im Grunde bestätigten die Worte des Besuchers seine eigenen Befürchtungen und Zweifel: Nein, Gott war nicht tot, aber der eigenen Schöpfung entwachsen, und wenn Er zurückschaute, dann mit der lächelnden Wehmut eines erwachsenen Mannes, der in der Bodenkammer eine verstaubte Kiste mit Spielzeugsoldaten öffnet.
Jegliches hat seine Zeit , dachte der Dichter melancholisch. Weshalb sollte es Ihm anders ergehen als jenen, die Er einst nach seinem Bilde erschaffen hatte?
»Du zweifelst noch immer«, sagte der kleine Mann so selbstverständlich, als hätte er seine Gedanken belauscht. »Nur sollte dich das nicht daran hindern, das Notwendige zu tun – auch um deiner selbst willen.«
»Habe ich denn überhaupt eine Wahl?«
»Ja, natürlich. Du kannst weiter deine Sandburgen bauen oder den Blick über die Grenzen hinaus richten und jenen beistehen, die deiner Hilfe bedürfen. Sie konnten dich zwar nicht sehen, als sie dein Dorf durchstreift haben, doch ich bin überzeugt, dass sie deine Gegenwart gespürt haben und glaubten, dass jemand über sie wacht. Dort drüben bis du der einzige Gott, den sie haben.«
Blendend blaues Licht flutete plötzlich in den Raum, und als der Dichter die Augen wieder öffnete, waren Möbel und Wände verschwunden. An ihrer Stelle erhob sich ein windschiefes Fachwerkhaus, gesäumt von einem Gärtchen mit einem halben Dutzend verkrüppelter Apfelbäume.
Doch nicht der Anblick des letzten Hauses der Welt war es, der das Herz des Dichters bis zum Hals schlagen ließ, sondern die einsame Gestalt davor – eine junge dunkelhaarige Frau, die gedankenverloren seine Verse nachsprach wie ein Gebet:
Und die das Dorf verlassen, wandern lang,
und viele sterben vielleicht unterwegs.
Der Dichter wollte aufspringen und zu ihr eilen, aber etwas hielt ihn fest, als sei die Luft plötzlich zu einer festen Substanz geronnen, die ihn einschloss wie ein hilfloses Insekt.
»Verzeih mir, Miriam«, flüsterte er tonlos. »Ich werde dich wiederfinden, wo immer du jetzt auch bist.«
Das Bild verblasste, aber der Schmerz blieb, den auch die Rückkehr der vertrauten Umgebung nicht mildern konnte. Noch bevor der letzte Schimmer des blauen Lichtes erlosch, wusste der Dichter, dass die Audienz vorbei war, und so vermochte ihn das Verschwinden des Besuchers nicht zu überraschen. Es stand auch kein weiteres Gedeck auf dem Frühstückstisch, und zweifellos würde der brave Carlo die Frage nach einem zweiten Gast kopfschüttelnd verneinen.
Die Zeit allerdings war nicht stehen geblieben. Das Pendel der großen Standuhr war wie stets in rastloser Bewegung und der kleine Zeiger näherte sich der elf. Um diese Zeit war er sonst längst unterwegs, und er musste sich beeilen, wenn er den Weltenbaum noch vor dem Schlag der Mittagsglocke erreichen wollte.
Der Dichter sprang auf, knöpfte hastig sein Jackett zu und stürmte zur Tür hinaus.
Die »Sandburgen« konnten warten, die Frau, die er finden musste, jedoch nicht …
Lizard King
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