Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
nichts davon, aber der Wächtergott sah sie mit Wohlgefallen an, denn sie war eine schöne Frau und ihr Lächeln für jeden Mann eine Versuchung. Als der Erhabene sich schließlich abwendete, fiel der Zauber von Nang Sida ab, und sie lief davon, so schnell die Füße sie trugen.
Ihr Geheimnis wäre sicher unentdeckt geblieben, wenn sie nicht kurze Zeit darauf schwanger geworden wäre, ebenso wie zwei andere Frauen aus dem gleichen Dorf, die wie sie allein lebten. Keine der Frauen verriet, wer ihnen beigewohnt hatte, und so wurden alle drei mit Schande aus dem Dorf gejagt. Sie suchten und fanden Schutz in einer nahe gelegenen Felshöhle und ernährten sich bis zu ihrer Niederkunft von Früchten, Wurzeln und den Almosen mitleidiger Seelen. Als ihre Stunde nahte – auch das Schicksal Ausgestoßener fand in der kleinen Welt der Dorfgemeinschaft Anteilnahme –, schickte man eine heilkundige Frau zur Höhle, um den Kreißenden beizustehen. Die alte Frau waltete ihres Amtes mit Geschick und Erfolg, aber was sie bei ihrer Rückkehr zu berichten hatte, trieb den Ältesten die Sorgenfalten auf die Stirn.
Alle drei Frauen hatten einer Tochter das Leben geschenkt. Sie hatten große Schmerzen erleiden müssen dabei, denn die Mädchen seien größer und schwerer gewesen als die meisten Neugeborenen, denen sie ans Licht der Welt geholfen hatte. Dass die Kinder einander zum Verwechseln ähnlich sahen, war seltsam, aber vielleicht noch zu erklären, wenn sie den gleichen Vater hatten. Doch die alte Frau schwor bei allen Göttern, dass die Kleinen sie angelächelt und mit strahlend blauen Augen jede ihrer Bewegungen verfolgt hätten. Natürlich konnte dieser Eindruck auf einer Sinnestäuschung beruhen, nicht aber der Umstand, dass die Wunden der Mädchen nach Durchtrennen der Nabelschnur innerhalb von Sekunden verheilt waren!
Daraufhin befahl der Dorfälteste, Frauen und Kinder zurück ins Dorf zu bringen, und als das geschehen war, befragte er die jungen Mütter persönlich. Zwei der Frauen wussten ihr Geheimnis zu wahren, aber die schöne Nang Sida war nach all den Strapazen endgültig nicht mehr Herr ihrer Sinne. Sie gestand mit einem stolzen Lächeln, dass es ein Gott gewesen sei, der ihr in seiner Kraft und Herrlichkeit beigewohnt habe, und nannte ihr Kind ein Geschenk des Himmels. Unglücklicherweise gab sie auch zu, dass sie den Ältesten heimlich zum Ritualplatz gefolgt sei und dabei die Aufmerksamkeit des Erhabenen auf sich gezogen habe. Damit hatte die arme Frau ihr Leben verwirkt. Ergrimmt befahl das Dorfoberhaupt, Nang Sida zu erdrosseln, ihre Leiche auf dem Kahlen Berg zu verbrennen und die Asche in alle vier Winde zu streuen, und so geschah es auch. Den beiden anderen Frauen wurde eine heruntergekommene Pfahlhütte außerhalb des Dorfes zugewiesen, in der man früher Aussätzige untergebracht hatte. Die Kinder – auch die Tochter der unglücklichen Nang Sida – ließ man vorläufig bei ihnen und beraumte eine Ratsversammlung an, in der über ihr Schicksal entschieden werden sollte.
Es war keine einfache Entscheidung, die die Ältesten zu treffen hatten. Ließen sie die Kinder töten oder aussetzen, konnte das den Zorn der Götter heraufbeschwören, denn falls tatsächlich einer der Erhabenen die Frauen geschwängert hatte, standen die Kinder unter ihrem Schutz und keine Menschenhand durfte ihnen etwas antun. Was aber, wenn Nang Sida gelogen hatte und die Andersartigkeit der Mädchen ganz andere Ursachen hatte? Standen die Geschöpfe der Unterwelt der fleischlichen Begier nicht weitaus näher als die Erhabenen? Und sprach nicht das verstockte Schweigen der Frauen viel eher dafür, dass sie sich mit einem Dämon eingelassen hatten und die gerechte Strafe fürchteten? Durften sie es zulassen, dass die Dämonenbrut unbehelligt heranwuchs, bis niemand ihr mehr Einhalt gebieten konnte? Gegensätzlicher konnten die Positionen nicht sein, und da keine Partei die andere zu überzeugen vermochte, blieb der Rat uneins. Schon drohte die Versammlung im Zwist zu enden, als einer der Anwesenden vorschlug, den Fall einem unabhängigen Schiedsrichter vorzutragen. Der Name, den er nannte, überzeugte auch die Skeptiker, und so machten sich die alten Männer bereits am nächsten Morgen auf den beschwerlichen Weg in die Berge, wo der weise Mann sein Domizil hatte.
Loe Thai, der Einsiedler, stand nicht nur in dem Ruf enormer Weisheit, sondern galt auch als Heiliger, der im Begriff war, den Kreislauf der Wiedergeburten zu verlassen.
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