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Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)

Titel: Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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heraus, dass sie vermutlich selbst davon überrascht war. Es war nur ein Moment der Unaufmerksamkeit, aber dieser Augenblick genügte ihm, um seine linke Faust, die immer noch den Talisman umklammerte, in Position zu bringen und abzudrücken.
    Das Lachen der Frau brach ab, und ihre rechte Hand zuckte nach hinten. Offenbar hatte sie nur seine Bewegung, nicht aber den winzigen Pfeil bemerkt, dessen Flugbahn Johnny nur erahnen konnte.
    Er erkannte, dass sie im Begriff war, etwas in seine Richtung zu werfen, und einen endlosen, panikerfüllten Moment lang fürchtete John, er hätte sie verfehlt. Doch dann erschlaffte ihr Körper ruckartig, als hätte ein unsichtbarer Marionettenspieler die Fäden gekappt, die ihn aufrecht hielten. Ihre Augen starrten John in ungläubiger Überraschung an, bevor sie jeglichen Ausdruck verloren und ihr Gesicht in einem debilen Grinsen erschlaffte. Das Gewicht, das sie hatte in seine Richtung schleudern wollen, fiel polternd zu Boden, als die Spule mit der Monofaserschnur ihren Händen entglitt.
    Das Geräusch riss Johnny aus seiner Erstarrung. Er sah noch, wie Ailin Ramakian lautlos zusammensank, und für einen Moment verspürte er einen Anflug von Mitleid. Doch der Anblick des alten Mannes, an dessen leblosen Körper er auf dem Weg zur Tür vorbeimusste, löschte dieses Gefühl aus.
    Andere würden sich um die Toten kümmern. Er musste hier weg – schnell.
    Zurück im Vorraum atmete er tief durch und spähte dann durch die spaltbreit geöffnete Tür nach draußen. Es war niemand zu sehen; ringsum war nach wie vor alles still. John schlüpfte hinaus auf den Korridor und ließ die Tür hinter sich vorsichtig ins Schloss gleiten.
    Er widerstand dem Impuls, im Laufschritt davonzustürmen, und hielt sich auf dem Rückweg zum Treppenhaus weiter im Schatten. Vor jedem Richtungswechsel verharrte er kurz, um zu lauschen, aber Treppen und Korridore lagen weiterhin wie tot im trüben Schein der Nachtbeleuchtung. Natürlich konnte er nicht ausschließen, dass ihn dennoch jemand beobachtete, aber im Grunde glaubte Johnny nicht daran. Es war kein Ort, an dem Nachbarn einander belauschten …
    Als er das Foyer durchquert und die Treppe zum Hinterausgang erreicht hatte, waren seine Gedanken längst bei dem, was vor ihm lag. Er konnte versuchen zu fliehen, natürlich, entweder zu Fuß oder mit dem Lieferwagen draußen. Das Problem war nur, dass er nicht weit kommen würde. Selbst wenn es ihm gelang, die Schranke zu durchbrechen und heil aus der Stadt zu kommen, würde man ihn früher oder später einholen und festsetzen. Falls man sich überhaupt die Mühe machte. Es gab nur diese eine Straße, die zurück in die Zivilisation führte, und der Transporter war ein leicht zu identifizierendes Ziel. Und wie weit er als Kalang kommen würde, wenn er sich zu Fuß auf den Weg machte, darüber brauchte Johnny gar nicht erst nachzudenken.
    Was blieb, war eine letzte verzweifelte Möglichkeit, gegen die sich alles in ihm wehrte. Doch je länger er darüber nachdachte, um so mehr wuchs seine Überzeugung, dass er das Risiko eingehen musste.
    Vorsichtig öffnete Johnny die Tür zum Hof und spähte hinaus in die sternklare Nacht. Der Lieferwagen stand noch an Ort und Stelle. Das Fahrerhaus war unbeleuchtet und verlassen. Die Monteure waren also noch bei der Arbeit.
    Gut.
    In geduckter Haltung schlich sich John zum Heck des Fahrzeugs, öffnete vorsichtig die Tür und schwang sich hinauf in den Laderaum. Alles schien unverändert, obwohl es ein wenig dauerte, bis sich Johnnys Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Als die Umrisse deutlicher wurden und er nicht mehr fürchten musste zu stolpern, tastete er sich vorwärts in Richtung Fahrerhaus und ließ sich schließlich auf Ailins Sitzkissen nieder. Von dort aus hatte er freie Sicht zur Hecktür und konnte sich erforderlichenfalls bemerkbar machen.
    Auch wenn er die konkrete Abmachung nicht kannte, rechnete er nicht damit, dass die Männer abfahren würden, ohne sich ihrer Anwesenheit zu versichern. Sie waren zwar im Voraus bezahlt worden, aber Patonga war ein Ort, an dem man sich besser an Abmachungen hielt …
    Doch von nun an gab es nichts mehr, was Johnny noch tun konnte – außer zu warten, bis die Männer ihre Arbeit beendet hatten. Genau davor hatte er sich gefürchtet. Er wusste, wie unendlich langsam die Zeit verging, wenn das träge Vorrücken der Zeiger die einzig wahrnehmbare Veränderung war. Noch schlimmer jedoch war die Ungewissheit: Wie würden die

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