Götterdämmerung (German Edition)
Navigationsanzeige zu. Ein Wirrwarr aus roten und gelben Linien zeigte ihnen den Weg. Er wünschte, der Wagen würde schneller fahren.
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Simon musste länger als eine Stunde warten, bis endlich eine Bahn in seine Richtung fuhr. Dabei war er froh, dass der Verkehr nicht völlig eingestellt wurde. Immerhin fuhren die Bahnen vollautomatisch. Die Steuerung des Schienennetzes erfolgte ebenfalls vollautomatisch und wer sich in die Öffentlichkeit begab, tat es auf eigene Gefahr.
Er verließ die U-Bahn-Station, gehetzt von fürchterlichen Phantasiebildern, die Oliver und Yasmin zeigten. Wie weit würde der Boss gehen, um sich an ihm zu rächen?
Simon hatte immer geglaubt, Oliver zu kennen. Er hätte ihm blind vertraut. Das war vorbei. Oliver war ihm beinahe so fremd wie die Leute, an denen er vorüberlief.
Ich komme zu spät , dachte er schaudernd. Er wird total ausrasten.
Als Simon endlich vor seiner Haustür stand, ging sein Atem stoßweise. Er hatte Seitenstechen und das Gefühl, dass seine Beine viel zu schwach waren, seinen Körper zu tragen. Schwerfällig schleppte er sich die Treppe hinauf, Stufe für Stufe, wobei er sich mit den Händen am Geländer entlang zog. Vor seiner Wohnungstür blieb er erneut stehen. Leise öffnete er die Tür. In der Wohnung war es dunkel.
„Oliver?“, rief er. „Yasmin?“ Er schaltete das Licht an. Niemand meldete sich. Simon ging ins Wohnzimmer. Der abgewetzte Linoleumfußboden im Flur klebte bei jedem Schritt, als hätte jemand Saft verschüttet. Es stank nach kaltem Rauch, Zwiebel und etwas Undefinierbarem. Der kleine Couchtisch im Wohnzimmer verschwand unter einem Berg aus schmutzigem Geschirr. Eine Tasse stand in einer dunkelbraunen Kaffeelache. Der Teppich war voller Krümel.
Neben der Couch fand Simon Yasmins Rucksack. Der Fernseher lief, obwohl niemand mehr hier war. Oder täuschte er sich? Simon sah sich um. Er suchte nach einem Zeichen, konnte aber weder Yasmins Jacke, Schuhe noch ihre blaue Plüschschildkröte entdecken, die sie immer und überallhin mitnahm. Dafür entdeckte er eine Nachricht. Drei Sätze, die Oliver auf den Rücken eines der wenigen echten Bücher in Simons Wohnzimmer geschrieben hatte:
„Yasmin ist an einem sicheren Ort. Bleib, wo du bist! Ich melde mich wieder.“
Kurz und knapp. Aber Oliver hatte alles Nötige gesagt.
Du kommst nicht an deine Tochter ran, wenn ich es nicht will. Lass dir nicht einfallen, irgendetwas zu unternehmen, bis ich dir sage, wie es weitergeht!
Simon drehte den Kopf, als erwartete er, dass Oliver und Yasmin jetzt lachend aus einem Versteck gekrochen kamen. Dass es sich bei dem Brief nur um eine Drohung handelte. Oder um einen Test, wie er reagierte. Aber nichts geschah. Er blieb allein.
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Franco befand sich bereits auf der Ausfallstraße, als Olivers Anruf ihn erreichte.
„Hallo Boss“, sagte Franco erfreut. „Geht’s voran mit dem Neuaufbau?“
„Ja. Wo steckst du?“
„Ich bin unterwegs.“
„Ich habe einen Auftrag für dich.“
„Was, jetzt?“, fragte Franco, versuchte jedoch, sich seinen Verdruss nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Er wollte dem Boss nicht verraten, wie dicht er dem Androiden auf der Spur war. Der Roboter sollte eine Überraschung sein – ein Geschenk. Francos Eintrittskarte in die obersten Ränge der Organisation. Wenn Oliver jetzt schon davon erfuhr, wäre die Wirkung futsch.
„Kann das mit dem Auftrag noch ein bisschen warten?“, erkundigte er sich vorsichtig. „Jetzt ist es gerade ziemlich schlecht.“
„Das ist mir scheißegal!“, sagte Oliver gefährlich leise. „Du machst, was ich dir sage und kommst her! Und zwar gleich. Und lass dir nicht einfallen, wieder irgendwelche unabgesprochenen Aktionen zu starten!“ Seine Stimme war voll unterdrücktem Zorn, sodass Franco darauf verzichtete, ihm noch etwas entgegenzusetzen.
Er änderte den Zielort und schlug frustriert mit dem Handballen auf das Armaturenbrett. Das Sportcoupé verschwand in der Ferne.
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Eva rannte quer durch die riesige Eingangshalle und blieb dann orientierungslos vor den Fahrstühlen stehen. Ihr kamen nur wenige Menschen entgegen. Die meisten sahen aus, als könnten sie ein paar Monate Urlaub gut vertragen. Eva fragte sich, ob HMO A16 oder das Arbeitsklima schuld daran waren. Wie viele Menschen waren heute überhaupt an ihrem Arbeitsplatz erschienen? Wie viele saßen noch in ihren Büros und schafften es nicht mehr, dieses Gebäude zu verlassen? Wer würde
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