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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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hatte ich etwas zu essen dabei und suchte mir einen Platz im Schatten der Maulbeerbäume im Park vor dem alten Hauptgebäude, dem ältesten der an die Dzongs erinnernden Bauten. Ich setzte mich mit gekreuzten Beinen ins Gras, machte es mir bequem und entwickelte meine besten Lotosgedanken, während die Zeit dahinkroch oder mitunter völlig zum Stillstand kam.
    An diesem Tag entwickelte ich keine Lotosgedanken. Auf dem Campus wimmelte es nur so von Leuten und da es Freitag war, probte eine Rockband auf dem Platz vor dem Haus der Studentenvereinigung. Ich sprach einen zerstreut wirkenden Mann in Seersucker und Fliege an — vermutlich ein Professor der Ökonomie — und fragte, wo sich das Institut für Lateinamerikanische Studien befinde. Er erklärte mir den Weg. Das Dröhnen der Band überlagerte seine Stimme. Ich meinte, etwas verstanden zu haben, was wie War Hell klang. Fast richtig. Am südlichen Ende des Campus fand ich schließlich Worrell Hall.
    »Können Sie mir sagen, wie ich zum Büro von Carla Penrose komme?«, erkundigte ich mich bei der Sekretärin des Fachbereichs, einer schmalen, angespannt wirkenden Frau in den Fünfzigern. Sie war eine von diesen stets erschöpften Bürokräften, die selbst im Sarg einen enervierten Eindruck machen.
    »Sie hat sich für heute krankgemeldet«, erklärte sie, ohne ihren Papierkram aus den Augen zu lassen.
    »Verraten Sie es mir trotzdem«, bat ich.
    Sie sah mich kurz an. »Weshalb sollte ich das tun?«
    »Ich möchte ihr eine Nachricht unter der Tür durchschieben.«
    »Geben Sie sie mir. Ich werde sie in ihr Postfach legen.«
    »Es ist etwas Persönliches. Eine Art Billetdoux. Wir sind gut befreundet. Ich möchte es ihr lieber unter der Tür durchschieben.«
    Ihre Lippen bildeten eine scharfe rote Linie. Sie zu küssen wäre dem Küssen eines Käsehobels gleichgekommen. »Niemand wird es lesen, Sir«, sagte sie. »Wir respektieren die Privatsphäre, selbst die unseres nicht festangestellten Lehrkörpers.«
    Ich nahm an, dass sie damit ihren Sinn für Humor unter Beweis stellen wollte, aber sie lächelte nicht.
    »Vergessen Sie’s«, sagte ich.
    Ich ging den Gang neben dem Sekretariat entlang und studierte die Namensschilder an den Türen. Ich las sämtliche Namensschilder im Erdgeschoss und im ersten Stock. Schließlich fand ich C. PENROSE an der letzten Tür im Gang der zweiten Etage. Wer auch immer ihr dieses Büro zugewiesen hatte, er musste es in der Absicht getan haben, sie zu verbannen. In manchen Institutionen werden unbequeme Mitarbeiter mit abgelegenen Arbeitsplätzen bedacht, bevor sie gefeuert werden. Vermutlich aus einem ihrem anstehenden Handeln zu verdankenden Schuldgefühl heraus wollen sich die Vorgesetzten dem Anblick der alsbald an die Luft Beförderten nicht aussetzen. Ich fragte mich, ob Carla sich höheren Ortes Feinde gemacht habe, und kam zu dem Schluss, dass dem so sei. Sie war der Typ dafür — eine geborene Quertreiberin.
    Die Tür war verschlossen. Ich überprüfte die anderen Büros. Die meisten waren dunkel. Ich lauschte an zwei Türen, hinter deren Oberlichtern Licht zu sehen war. Nichts rührte sich. Wahrscheinlich Professoren, die irgendwelche Papiere lasen. Ich ging zurück zu Carlas Tür. Ich hatte mein Pickset dabei. Es war ein altes Schloss, so um die vierzig oder fünfzig Jahre alt. Trotzdem kostete es mich rund anderthalb Minuten, bis sich die Stifte meiner »Schlange« Marke Eigenbau beugten. Zu lange. Andererseits war der Ort sicher genug für die ruchlose Tat. Ich betrat das Büro und schloss die Tür hinter mir.
    Carla lebte komfortabel in ihrer Verbannung. Das Büro war eine Aussage: So ein Exil hat auch sein Gutes. Es war liebevoll eingerichtet und besaß die typisch weibliche Note — Teppiche mit Persermuster, Vorhänge aus Chintz, eine Stehlampe im Tiffany-Stil, ein kleiner Kühlschrank, die Tür voller Magneten und Aufklebern, und an den Wänden Reproduktionen impressionistischer Meister. Die Wände selbst waren in einem ungewöhnlichen Blaugrün gestrichen.
    Es gab einen mit Plüsch bezogenen Diwan, darauf dicke Seidenkissen, und einen Ledersessel mit passendem Hocker. Der Diwan war weinrot und lang genug, um sich darauf ausstrecken zu können. Der Raum hatte mehr von einem Versteck als von einem Büro, ein idealer Ort für ein romantisches Stelldichein.
    Blickte man aus dem Fenster, offenbarte sich der Kontrast: Auf der anderen Seite des Rio Grande sah man eines der ärmsten Viertel von Juárez, das Territorium der

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