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Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Götterdämmerung in El Paso (German Edition)

Titel: Götterdämmerung in El Paso (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis
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ebenfalls gesehen habe«, sagte ich zu Velma. »Vielleicht quartiert sie uns im Pflegeheim in benachbarten Zimmern ein.«
    »Ich bin nicht verrückt. Ich bin auch nicht senil. ›Des Waldes Dunkel zieht mich an, doch muss zu meinem Wort ich stehn, und Meilen gehn, bevor ich schlafen kann.‹ So in etwa lautet es. Robert Frost, wenn ich die Zeilen richtig in Erinnerung habe. Erinnerung! Es hat Zeiten gegeben, da konnte ich das ganze Evangelium auswendig.«
    »Pilar hat nicht behauptet, dass du verrückt bist. Sie ist nur der Ansicht, du kommst nicht mehr allein zurecht. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Mom?«
    Sie blickte sich verstohlen in der Küche um, wie ein Kind bei dem Versuch, sich die perfekte Lüge auszudenken. Kein Topf auf dem Herd, kein Teller in der Spüle, die Arbeitsplatten leer wie die Regale, wo sonst Lebensmittel gestanden hatten. »Ich glaube, es müsste gestern gewesen sein«, sagte sie.
    Ich warf einen Blick in den Kühlschrank. Ein Viertelliter saure Milch, zwei Wochen über dem Verfallsdatum. Ein gekochtes Ei. Eine halbe Zitrone. Eine schwarze Banane. Eine Scheibe vertrocknetes Brot, bestrichen mit etwas, von dem ich hoffte, dass es Apfelgelee sei. Im Gemüsefach ein Kopfsalat, dunkel wie Motoröl.
    »Du hast etwas abgenommen«, sagte ich.
    »Das war beabsichtigt. Je leichter man ist, desto näher ist man dem Himmel. Du solltest auch etwas abnehmen. Du hast einen Bauch angesetzt.«
    Sie trug ihren alten rosafarbenen Bademantel aus Chenille. Er war am Hals offen. Ich sah die Knochen zwischen ihren schlaffen Brüsten, die dünne Haut voller Leberflecken.
    »Zieh dich an, Mom. Ich lade dich zum Essen ein.«
    »Daddy sagt, der Verzicht aufs Essen beschert dir die Fahrkarte nach drüben. Er ist einsam und sehnt sich nach mir. Selbstverständlich ist nicht garantiert, dass ich seine Dimension finde, wenn ich hinübergehe. Wer weiß, worauf ich stoßen werde. Vielleicht kann ich mich dort gar nicht orientieren. Es ist ein Wunder und ein Rätsel. Vielleicht wird Daddy immer einsam sein. Obwohl er weiß, dass diese Möglichkeit besteht, möchte er, dass ich es auf jeden Fall einstelle.«
    Das Essen einstellen. Die Fahrkarte nach drüben. Nicht unbedingt das, was Daddy sagen würde, aber wie hätte ich im Sinne eines durch die Dimensionen reisenden Geistwesens widersprechen können?
    »Könnte dich ein Schweinekotelett-Sandwich reizen, Mom?« Ich wollte sie in Versuchung bringen. »Du siehst verdammt hungrig aus.«
    Aber man konnte sie nicht weglocken von ihren Hirngespinsten — was so viel bedeutete wie: Sie hatte keine Wahl. Sie musste ins El Descanso übersiedeln.
    Ich ging wieder ins Wohnzimmer. Die Mutter Gottes war noch immer an der Decke, huldvoll und voller Vergebung, mit ausgebreiteten Armen, bereit, die leidende Menschheit zu empfangen. Man konnte sich tatsächlich einreden, die Wasserflecken, die ihr bleiches, ovales Gesicht beschrieben, seien von unsicherer, aber ergebener Hand aufgetragen worden. Steigerte man sich noch mehr hinein, konnte man fast das berühmte Kind in ihren Armen erkennen.
    »Tu etwas«, sagte ich. »Gib dem alten Mädchen eine Chance. Bitte.«

29
    Am Nachmittag verbrachte ich zu viel Zeit in Rosa’s Cantina unten an der Doniphan Street, einem vorzüglichen Platz, wenn man — weshalb auch immer — abtauchen musste. Keine Ahnung, ob man die Bar nach dem Song von Marty Robbins benannt hatte oder ob Marty Robbins durch die Bar zu seinem Song inspiriert worden war. Oder ob es überhaupt eine Verbindung zwischen beidem gab. Ich mochte die Bar. Ich mochte den Song. Es war eine dieser Henne-oder-Ei-Geschichten, über die man nicht lange nachzudenken brauchte. Wann immer ich zum Abtauchen herkam, fütterte ich die Musikbox mit Münzen und spielte die Marty-Robbins-Nummern, bis sich die Blicke der Stammkunden wie Messer in meinen Nacken bohrten.
    Diesmal war ich nicht zum Abtauchen hier oder um meine Probleme zu ertränken. Bis auf den Umstand, dass ich meine Mutter überzeugen musste, sich friedlich zu ihrer letzten irdischen Krippe zu begeben, hatte ich überhaupt keine Probleme. Man könnte mich wegen Beihilfe anklagen, aber das wäre eine harte Nuss und vermutlich die Zeit des Staatsanwaltes nicht wert. Hab nur meinen Job gemacht, Sir: J.P. Morgan, Versicherungsdetektiv und Eheberater, zugelassen vom Staate Texas, tätig auf dem Felde der Läuterung von Mensch und Gesellschaft durch die Erledigung von Aufträgen, gleichgültig, wie hirnverbrannt, aussichtslos

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