Goetterdaemmerung - Roman
starrte und gähnte.
V
Ja! Die Zeit war reif für einen entscheidenden Coup. Die Belcredi fand nach so viel Unbekümmertheit, Schüchternheit, Begierden, die sie sogleich in Nachlässigkeit und Apathie ertränkt hatte, endlich zu ihrem wahren Wesen zurück; sie fühlte, wie sich plötzlich tausend Schlangen in ihrer Brust regten und ihr keine Ruhe mehr ließen. Tag und Nacht, ja sogar während sie sich unterhielt, träumte und fantasierte Giulia von diesem großen Haufen Geld und Edelsteinen; der Glanz des Goldes hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ihre ganze Erscheinung strahlte nun eine neue Lebhaftigkeit aus, sogar ihr Teint wurde rosiger, ihr Auftreten munterer, die Gespräche mit ihr subtiler und fröhlicher. Doch verfolgte die Sängerin unter der vorgetäuschten Freundlichkeit, deren sie sich wie einer Maske bediente, um ihre Umgebung irrezuleiten, abscheuliche Gedanken und teuflische Ziele. Sie verbrachte ihre Tage mit unaufhörlichen Grübeleien, wie sie sich über die Hürde der Kinder des Herzogs hinwegsetzen könnte; ihr Verstand arbeitete rastlos, um eine dämonische Intrige zu schmieden, die sich unbemerkt entwickelte, sich über ihren Köpfen auftürmte und deren unerwartetes Ende sie vernichten würde.
Alles war ihr zurzeit gewogen. Dank Esprit, Komplimenten und immer größeren Lobhudeleien, mit denen sie Seine Hoheit regelrecht überschüttete, festigte sie ihre Stellung. Ihre wachsende Gunst zeigte sich, als Karl von Este Goldmedaillen mit seinem Bildnis auf der einen Seite und der Einweihungszeremonie für das Gebäude auf der anderen verteilte. Der Sendung für die Belcredi fügte er außerdem eine große, mit kostbaren Galanteriewaren gefüllte Schmuckkommode hinzu sowie ein kleines Präsent aus Spitze für Christiane. Dieses Geschenk, das Giulia eigenhändig überbrachte, half ihr, den Umgang wieder aufzunehmen und Christiane und Hans Ulrich erneut auszuspionieren.
Sie konnte zufrieden sein und sich über den vollständigen Erfolg ihrer grausamsten Hoffnungen freuen. Ach!, an dem Nachmittag, als sie den beiden jungen Leuten die bewegende Szene aus «T’is a pity she’s a whore» 87 vorgelesen hatte, waren tatsächlich Trauer und Schmerz über ihre Lippen gekommen. Das tödliche Gift, das Christiane und Ulrich an jenem Tag geschluckt hatten, begann sich auszubreiten. Verletzlich und mit gerunzelten Brauen, mit wildem und herausforderndem Blick sah man sie plötzlich erschauern, als sei in ihren Ohren wieder die schreckliche Warnung erklungen, die ihnen Giulia vorgetragen hatte:
«Ihr seid mein Bruder, Giovanni!»
«Und ihr meine Schwester, Annabella!»
Oh!, wie fern war schon jene köstliche Zeit, in der ihr Leben so ruhig dahinfloss, in der sich ihre Seelen in mächtigem, keuschem, sanftem Genuss einander anvertrauten, wenn sich nur ihre Blicke trafen. Jetzt hingegen strahlten sie etwas Beunruhigendes aus, das sie unaufhörlich in ihrem tiefsten Inneren bedrängte; und diese Gefühlswallungen zeigten sich nur zu oft auch äußerlich an der Röte ihrer Gesichter, ihrem ungleichen und unregelmäßigen Pulsschlag und der traurigen Verwirrung, die ihnen mit ihrem entflammten Blut zu Kopf stieg. Früher hatten sie mit vereinten Herzen und wie ineinander ruhend gelebt, doch jetzt wähnten sie sich stets gestört und sahen sich mit einem Schamgefühl konfrontiert, das sie trennte wie eine Mauer. Wenn sie zusammensaßen oder plauderten, verloren sie immer wieder den Kopf; sie litten darunter, ihre Gesten und Blicke in ewige Fesseln zu schlagen; und dieses selbst auferlegte Schweigen, all die erzwungenen Vorsichtsmaßnahmen brachten ihnen beileibe keine Lösung, vielmehr zeigten sie, wie schlimm es stand, und spornten ihre feinsinnige Feindin an, endlich die Katastrophe herbeizuführen.
Eines Morgens gegen zehn Uhr, als Giulia gerade bei Bruder und Schwester war, kam ein Lakai herauf und bestellte sie zu «Monseigneur dem Herzog», der sie in der Orangerie erwartete. Er vergnügte sich seit geraumer Zeit damit, der Öffnung der während des Debakels am 25. Juni in Wendessen gefüllten Kisten zuzusehen – jedenfalls des großen Teils, den Graf von Oels der Habgier der Preußen hatte entziehen können; und bei diesen Zusammenkünften spielten sich gewöhnlich Szenen ab, in denen Seine Hoheit Höhenflüge und Tiefpunkte zwischen Wut und Frohsinn durchlebte.
Die Belcredi traf Karl von Este im Schlafrock vor einer Psyche stehend an. Während Arcangeli gerade letzte Hand an seine Pomade
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