Goetterdaemmerung - Roman
Leiden.
Am nächsten Tag ging Hans Ulrich zum ersten Mal seit ihrer zartesten Kindheit nicht zu Christiane. Bäuchlings auf einen Diwan hingestreckt, weinte und seufzte der Junge herzzerreißend. Er verfluchte Regeln, Gesetze, all die von Menschen erfundenen Fesseln; er dachte an die Könige von Ägypten, die durch ihre Bräuche verpflichtet waren, ihre Schwester zu heiraten; er beneidete die Tiere um ihr Schicksal; er hätte Staub sein mögen; nach diesen trübseligen Überlegungen brachen schließlich keine Schluchzer mehr aus ihm hervor, sondern ein Röcheln und Heulen, das am Ende in wirrem Gerede, Seufzern und Gestammel verklang. Er erhob sich, trocknete seine geröteten Augen und lief im Zimmer umher. Er hatte einzig und allein zwei seltsame englische Verse im Kopf, die er sich beständig vorsagte:
«T’is good; though music oft hath such a charm
To make bad good and good provoke to harm.» 92
Er überlegte, in welchem Gedicht er sie gelesen haben mochte. «Arme Seele», wiederholte er leise bei sich, doch galten diese Worte Christiane; sie lag ihm, das fühlte er wohl, mehr am Herzen als sein eigenes Herz, ihre Leiden galten ihm mehr als seine eigenen; und der Gedanke an seine Schwester mehrte seine blutigen Tränen.
Er war erfüllt von ihr, er misstraute sich selbst, tausend Dämonen tanzten in seiner Seele; und so lebte Hans Ulrich in den folgenden Tagen, teils dumpf und schweigsam, dann wieder wie rasend, sodass zu befürchten stand, alles in seinem Körper werde zerbersten. Er warf seine Uhren weg, deren Ticken ihn störte; er fand sein Spiegelbild abstoßend und schluchzte bitterlich. «Hinfort! Ich will fort, sie verlassen!» Doch plötzlich lösten sich seine unerschütterlichsten Vorsätze in Luft auf. Aber ach!, je mehr er sein Geheimnis ergründete, desto mehr fand er, dass gerade dieses sein Innerstes war; er weinte, wälzte sich wutschäumend auf dem Boden und überwand diese Zornesausbrüche nur, um halb entblößt auf dem Rücken zu liegen, mit offenem Mund wie ein Sterbender …
Der Unglückliche wunderte sich allerdings, dass er nicht noch mehr litt: Nun denn!, war das alles!? Die Worte Leidenschaft, Qual, Verzweiflung hatten für ihn, wenn er sie früher in Büchern las, weit grausamer und härter geklungen als diese geringe Zuckung seiner Nerven, dieses etwas schnellere Schlagen seines Herzens. Und nun empörte sich Hans Ulrich über sich selbst, seine Ruhe erschreckte ihn; voller Verzweiflung rief, umfing, ja umklammerte er das Leiden und konnte doch nicht genug davon bekommen.
Trotzdem musste er sich am Abend des fünften Tages ankleiden und, so grausam die Anstrengung für den jungen Mann auch war, seinen kranken Körper und seine gequälte Seele zu Seiner Hoheit schleppen, die nach ihm verlangte. Christiane war schon dort, der Herzog hatte ihr gerade eine emaillierte Uhr in Form einer Laute geschenkt, ebenso wie er nun Hans Ulrich eine Pistolenschachtel überreichte, um mit diesen Geschenken mögliche Reste ihrer Missstimmung vollends zu verscheuchen.
Sie hoben kaum die Augen, doch der abgehackte Tonfall ihrer Stimmen, ihre Seufzer, ihre geringsten Bewegungen sprachen anstelle von Bruder und Schwester miteinander und erfüllten sie schmerzlich. Um sie herum herrschte absolute Stille; César schlief zu Füßen des Herzogs, die Sängerin sprach über Karl Doëry, der Wien nicht verlassen konnte; da überkam sie die wachsende Versuchung, sich anzusehen, und wäre es auch nur für einen Augenblick. Schließlich wandte Hans Ulrich den Kopf; an einem Samtband um den Hals trug sie ein Medaillon ihrer alten Amme Margareta Bracholz, ihrer Kinderfrau in Herrenhausen und in Blankenburg. Bei diesen vergessenen Erinnerungen fegte ein Sturm durch ihre Seele; Hans Ulrich erhob sich halb, war kurz davor, zu schreien und fortzustürzen … – doch da entsprang in ihrer Brust in noch heftigeren Wallungen ein unbestimmt liebliches und starkes Gefühl, das direkt aus ihrem Herzen zu kommen schien.
Von diesem Tag an kämpften sie nicht mehr, sie überließen sich ihrem Schicksal; Hans Ulrich ging wieder zu Christiane; sie begannen erneut zu proben, berauschten sich furchtlos an den leidenschaftlichen Gesängen der «Walküre». Die Belcredi, die ihnen auf Schritt und Tritt in ihre Seelen folgte, hörte endlich auf, weiter Gift in die schon tödliche Wunde zu gießen, und besuchte sie nur noch selten – sie war sicher, dass sie sich nun nicht mehr von ihren frevelhaften Bindungen würden lösen
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