Goetterdaemmerung - Roman
dünkte ihm plötzlich außerordentlich; lang zurückliegende und wirre Erinnerungen stürzten auf ihn ein, während sein Herz von einem Sog unerträglichen Leids verschlungen wurde; unwillkürlich fuhr der junge Mann fort, eine der Pistolen zu laden, und warf dabei nach rechts und links hoffnungslose Blicke.
«Ulrich! Ulrich!», rief Christiane von unten.
Er fuhr hoch, zwängte die Schachtel in den Sekretär zurück und ging schleunigst nach unten.
Der «Blankenburger Husarenmarsch», den das Orchester spielte, um dem Herzog ein wenig fürstliches Wohlwollen zu entlocken, kündigte schon die Ankunft der Gesellschaft im Saal an. Karl von Este war an der Spitze des Zugs und führte die Belcredi am Arm; ihre Schultern lagen frei, sie trug eine Federkrone mit Diamanten und ein Kleid aus herrlichem Stoff in Gold und Weiß, das mit Diamanten und Perlen besetzt war; dann kamen in einer Gruppe die beiden unehelichen Kinder, Arcangeli, der üppig mit seinen Verdienstkreuzen behängte Herr von Oels, die anderen Vertrauten und schließlich erschien allein und nach allen anderen, die er um Haupteslänge überragte, Herr d’Andonville, der in einem kolossalen ochsenblutfarbenen Gewand schwitzte. Der Herzog nahm auf einem Sessel im ersten Rang Platz; er platzierte Giulia zu seiner Rechten und Otto etwas weiter hinten auf der anderen Seite.
Das Orchester setzte zum Vorspiel an; ein Sturm grollte; dann teilte sich der Vorhang und zeigte die Behausung, mit Spießen an den Wänden, der massiven, kaum behauenen Tür und dem Dach, das von einer riesigen Esche gestützt wurde, an ihrer Seite glänzte das goldene Stichblatt des Schwertes, das dem Wälsung versprochen war. Ulrich-Siegmund trat auf; Christiane stimmte die ersten Noten von Sieglindes Gesang an – und alle beide fühlten, inmitten der Ruhe, die sie sich gewaltsam aufzuzwingen suchten, ihre Seele mit unbestimmten Wallungen zu jener Zeit zurückkehren, in der sie dereinst in Herrenhausen Komödien und Dramen für Kinder aufgeführt hatten.
«Lieber Fürst!», flüsterte die Belcredi beim Szenenapplaus dem Herzog ins Ohr, «schaut doch, wie gut die Gräfin ihre Rolle spielt.»
Während der wilde Hunding mit einer überraschten Geste den Fremden bemerkte, stand Christiane regungslos in einer Ecke der Bühne und warf ihrem Bruder tiefe und hoffnungslose Blicke zu. Sie liebte ihn, sie liebte ihn! Was half es, noch länger dagegen anzukämpfen …? Riesige Leuchter flackerten über dem leeren Saal, fast ohne Unterlass hörte man lauten Beifall. – Ja! Applaudiert nur diesen beiden Unglücklichen! Was sie spielten, waren ihre eigenen Herzensangelegenheiten; und diese Musik, mit der sie die Ohren Gleichgültiger unterhielten, war der Aufschrei ihrer Leidenschaft. Eine Tränenflut stieg ihr in die Augen. Wenn es doch der Rat der Götter, wenn es doch Wotan selbst war, der Siegmund in die Arme seiner Schwester trieb, weshalb sollte der Inzest dann eine Sünde sein …? Und während sie bei diesem Gedanken ein wollüstiger Angstschauer durchlief, hing Christiane fast ohnmächtig, mit starrem Blick und in sich verschlossen, weiter ihren Träumereien nach.
«Bravo! Bravo!», rief der Herzog, der in Sieglindes Richtung klatschte, als diese langsam abtrat.
Nun war die Nacht über die Bühne hereingebrochen; Hans Ulrich saß allein am verlöschenden Feuer. Die symphonische Melodie, die das Orchester leise spielte, drang nicht an sein Ohr; tausend Fantasien, tausend Begierden erwachten in ihm mit aller Macht; seine Seele war bereit, das Verbrechen zu begehen und vollzog den Inzest bereits in Gedanken. Eine Tür öffnete sich; es war Sieglinde.
Sie hatte ihren Mann mit einem Schlaftrunk betäubt. Jetzt kam sie, um Siegmund das Schwert zu zeigen, das in der Esche steckte; und während die beiden die große Bühne durchmaßen, in deren Dunkelheit Sieglinde einem Gespenst glich, dachte Hans Ulrich erneut, dass alles nur eine Illusion sei. – Nun! Konnte er am Ende sicher sein, ob er träumte oder wachte? Er nahm die Welt mit trüben und leeren Augen wahr, die ganz tief in seiner Seele gründeten. Er fragte sich, ob das, was man gemeinhin Leiden und Leben nennt, nicht nur der etwas aufgeregtere Teil eines düsteren und fortwährenden Schlafes sei? Doch in diesem Augenblick erhob sich eine Melodie, stark und heroisch wie der Frühling; die gewaltige Tür sprang mit lautem Krachen auf; die Helligkeit der Mondnacht durchflutete die Hütte.
Da nahm Hans Ulrich, wie es die Dichtung
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