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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Asche ihr Gefieder verklebte, auch der Wind hatte sich verzogen, sodass die paar Grashalme, die es hier gab, wie aufgemalt in der Gegend herumstanden.
    Seit zwei Stunden saß Wencke schon hier und starrte in die Ferne, solange es noch ging. Der Horizont schien immer näher zu rücken, der Staub sammelte sich in jeder Ritze, manchmal spürte sie es schon auf der Haut rieseln und die Augen brannten von der scharfen Luft. Wencke wünschte, es gäbe mehr Ablenkung, sie müsste auch noch nicht einmal sinnvoll sein, vielleicht würde es schon reichen, wenn die elende Sonne wenigstens mal ein kleines bisschen weiter untergehen könnte, das wäre schon was.
    Hauptsache, Wencke hing nicht ständig diesen Gedanken nach, die sich wie ein Brummkreisel in ihrem Hirn drehten. Immer wenn sie an Jarle dachte, daran, dass sie mit diesem Teufel im Bett gewesen war, ihn geküsst und umarmt hatte, veranstalteteihr Kreislauf ein Spektakel, als bekomme er eine Gratisportion Aufputschmittel. Doch statt wegrennen, zuschlagen oder wenigstens schreien zu können, wie ihre Nerven instinktiv in Auftrag gaben, blieb sie auf diesem Holzstuhl sitzen, bewegungslos, tatenlos, stumm. »Er kommt nicht mehr«, sagte sie irgendwann leise zu sich selbst. »Und ich bleibe hier, bis mich jemand zu vermissen beginnt. Oder bis dieser Vulkan mir um die Ohren fliegt.«
    Der Herðubreið grollte.
    »Halt die Schnauze!«, rief Wencke.
    Der Herðubreið spuckte Feuer. Es war besser, sich nicht mit ihm anzulegen. Er war immerhin ein mächtiger Vulkan, der Steine kilometerweit in die Höhe schleudern und die Welt um sich herum vollkommen vernebeln konnte.
    Und sie war nur eine blöde Kuh! Dämlich! Sie hatte sich mit einem Kerl eingelassen, der ihr von Anfang an suspekt gewesen war. Was hatte Jarle nur mit ihr angestellt? Normalerweise war sie schwer zu erobern.
    Vorhin hatte sie in seinen Schränken gewühlt, weil sie kurzfristig vermutete, er könnte ihr so ein fieses Zeug verabreicht haben, heimlich im Rotwein, das willenlos und gefügig macht. Gefunden hatte sie nichts außer der Erkenntnis, dass sie sehr wohl im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte gehandelt haben musste, zumindest dem, was nach dem Badeunfall im Gletschersee noch übrig geblieben war. Jarle hatte eine Sehnsucht in ihr gestillt, die Wencke zuvor gar nicht bewusst gewesen war. Endlich mal wieder begehrt zu werden, endlich ganz nah bei jemandem zu sein, der wusste, was er tat. Und der es auch noch absolut grandios hinbekam.
    Wencke seufzte. Hoffentlich würde ihre Mutter niemals danach fragen, wie die Begegnung mit Jarle im Detail verlaufen war. Ohne Schamesröte käme Wencke aus dieser Kiste nie heraus.
    Wäre das ganze Leben eine von Jarles geliebten Sagen, dann verkörperte er zweifelsohne die Rolle des Loki. Dieser schöne, kluge Intrigant und Manipulator war vermutlich so etwas wie Jarles Idol. Dass in der Hütte so viele Abbildungen von diesem Gott zu finden waren, hätte ihr viel eher zu denken geben müssen.
    Bestimmt hatte Jarle sich vor einem Jahr nur deswegen mit Isa Tydmers eingelassen, um über diesen Umweg herauszufinden, wo Wenckes Schwachstellen lagen – und diese hatte er dann schamlos genutzt. Das hätte in keinem Mythenbuch blumiger geschrieben stehen können: Er ist so unwiderstehlich, alle Frauen zwischen vierzig und achtzig liegen ihm zu Füßen …
    Aber warum der ganze Aufwand?, fragte sie sich zum wievielten Mal auch immer. Weshalb machte Jarle mit Doros Tochter gemeinsame Sache? Welches Ziel brachte diese beiden völlig unterschiedlichen Menschen auf dieselbe Spur?
    Es begann zu regnen, obwohl eigentlich nur die gigantische Aschewolke am Himmel zu sehen gewesen war. Die dicken Tropfen landeten auf ihrer Haut und vermischten sich mit den rußigen Partikeln zu einer schwarzen Flüssigkeit, die ihr in die Ärmel lief. Wencke erhob sich langsam. Es kam ihr vor, als hätte ihr Rücken sich bereits an die Form der Stuhllehne angepasst, sie musste sich dehnen, die Arme strecken, die Beine durchdrücken. Dem plötzlichen Regen sei Dank: Hätte sie hier noch eine einzige Minute länger gesessen, sie wäre womöglich versteinert, ohne es zu merken.
    Im Innern des Hauses lag der Inhalt der durchwühlten Schränke auf Boden, Tisch und Sofa verteilt. Jarle musste seine geschäftliche Korrespondenz von dieser Hütte aus abwickeln, denn es standen ein Dutzend Aktenordner in der Kommode. Natürlich hatte Wencke auch darin geblättert, doch den in der Landessprache

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